»Wenn sie Jonathan so treu ergeben sind wie einst Valentin, dann werden sie mit ihren Körpern einen Schutzwall um ihn herum bilden – und um Clary und Jace ebenfalls.« Eine kalte, mütterliche Wut sprach aus Jocelyn und ihre grünen Augen funkelten zornig. »Wir werden ihre Reihen durchbrechen müssen, um zu ihnen zu gelangen.«
»Wir müssen zuallererst zu Sebastian vordringen«, erwiderte Isabelle. »Simon, wir werden dir eine Schneise freischlagen. Du schnappst dir Sebastian und rammst ihm Glorious in die Brust. Sobald er erst einmal gefallen ist…«
»… werden die anderen sich wahrscheinlich in alle Winde zerstreuen«, ergänzte Magnus. »Oder – je nachdem, wie eng sie mit Sebastian verbunden sind – an seiner Seite sterben. Das können wir zumindest hoffen.« Er hob den Kopf und schaute zum Deckstein. »Apropos hoffen: Habt ihr den Schuss gesehen, den Alec mit seinem Bogen abgefeuert hat? So kenne ich meinen Freund.« Der Hexenmeister strahlte und bewegte seine Fingerspitzen, woraufhin blaue Funken in alle Richtungen stoben und er von Kopf bis Fuß aufleuchtete.
Nur Magnus war in der Lage, sich eine paillettenbesetzte Kampfmontur zu besorgen, dachte Simon ergeben.
Isabelle wickelte sich die Peitsche vom Handgelenk und ließ sie wie eine goldene Flamme nach vorn schnellen. »Okay, Simon«, sagte sie. »Bist du bereit?«
Simon straffte die Schultern. Sie standen noch immer ein Stück von den Reihen der gegnerischen Armee entfernt – er wusste nicht, wie er die anderen, schwer bewaffneten Nephilim in ihren roten Roben und Kampfmonturen sonst hätte bezeichnen sollen. Als einige von ihnen verwirrte Rufe ausstießen, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Beim Erzengel, Simon, was gibt es da zu grinsen?«, fragte Izzy.
»Ihre Seraphklingen funktionieren nicht mehr«, erklärte Simon. »Sie versuchen herauszufinden, warum. Sebastian hat ihnen gerade zugebrüllt, sie sollen andere Waffen benutzen.«
Erneut ertönte ein Aufschrei aus der Gruppe der Nephilim um Sebastian, als ein weiterer Pfeil in hohem Bogen vom Grabmal flog und sich in den Rücken eines stämmigen, rot gekleideten Schattenjägers bohrte, der daraufhin nach vorn kippte. Die Reihen der Schattenjäger bewegten sich ruckartig zur Seite und dazwischen öffnete sich ein Spalt. Simon erkannte seine Chance und stürmte vorwärts, dicht gefolgt von den anderen.
Das Ganze kam ihm wie der Versuch vor, bei Nacht in einen Ozean einzutauchen – in eine tiefschwarze See, in der es von Haien und Meeresungeheuern mit rasiermesserscharfen Zähnen nur so wimmelte. Dies war zwar nicht Simons erster Kampf, aber während der Großen Schlacht hatte Clary ihn gerade erst mit dem Kainsmal versehen gehabt. Obwohl das Mal noch nicht seine volle Wirkung entfaltet hatte, waren viele Dämonen schlagartig vor ihm zurückgewichen. Er hätte nicht gedacht, dass er das Zeichen auf seiner Stirn einmal vermissen würde – doch nun, als er versuchte, sich durch die dichten Reihen der rot gekleideten Schattenjäger zu kämpfen, die mit ihren Waffen nach ihm schlugen, fehlte es ihm gewaltig.
Isabelle und Magnus flankierten ihn, schützten ihn und schützten Glorious. Izzys Peitsche knallte kräftig durch die Luft und Magnus’ Hände sprühten rotes, grünes und blaues Feuer, das die getroffenen Dunklen Nephilim in Flammen aufgehen ließ. Andere Schattenjäger brüllten auf, als Lukes Wölfe, die sich zwischen sie gestohlen hatten, ihnen an die Kehle sprangen.
Plötzlich flog ein Dolch mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf Simon zu und traf ihn an der Seite. Vor Schmerz schrie er auf, lief aber weiter, weil er wusste, dass die Wunde innerhalb weniger Sekunden verheilen würde. Simon drängte vorwärts – und erstarrte. Ein vertrautes Gesicht tauchte vor ihm auf: Lukes Schwester, Amatis. Als sich ihre Blicke trafen, sah er, dass sie ihn wiedererkannte. Doch was tat sie hier? War sie hergekommen, um an ihrer Seite zu kämpfen? Aber…
Im nächsten Augenblick stürzte Amatis sich auf ihn, einen dunkel schimmernden Dolch in der Hand. Sie war zwar schnell – aber eigentlich hätten seine Vampirreflexe Simon vor Schaden bewahrt, wenn er nicht so überrascht gewesen wäre. Amatis war Lukes Schwester, er kannte sie doch…
Dieser Moment ungläubigen Zögerns hätte möglicherweise Simons Ende bedeutet, wenn Magnus ihn nicht aus dem Weg gestoßen hätte. Blaue Flammen sprühten von seinen Händen, doch Amatis war schneller als der Hexenmeister. Sie wich dem Feuer aus, tauchte unter Magnus’ Arm hindurch und einen Sekundenbruchteil später blitzte die Klinge ihres Dolchs im Mondlicht auf. Magnus’ Augen weiteten sich vor Entsetzen, als Amatis ihre mitternachtsschwarze Waffe herabsausen ließ und durch die Kampfmontur hindurch in seinen Körper rammte. Dann riss sie die Hand mit dem Dolch zurück, die Klinge verschmiert mit spiegelndem Blut.
Isabelle schrie auf, als Magnus zusammenbrach und auf die Knie fiel. Simon versuchte, zu ihm zu gelangen, doch die Woge der Kämpfenden riss ihn fort. Hilflos brüllte er Magnus’ Namen, als Amatis sich über den zu Boden gegangenen Hexenmeister beugte, den Dolch ein weiteres Mal anhob und auf sein Herz zielte.
»Lass mich los!«, schrie Clary und versuchte, sich zappelnd und tretend aus Jace’ Griff zu winden. Sie konnte kaum etwas von dem erkennen, was sich vor der hin und her wogenden Menge der rot gekleideten Schattenjäger abspielte, die Jace, Sebastian und sie vor ihrer Familie und ihren Freunden abschirmten. Die drei befanden sich ein paar Schritte hinter der Kampflinie; Jace hielt Clary fest, die wild strampelte, während Sebastian das Kampfgeschehen mit einer finsteren Wut in den Augen verfolgte. Seine Lippen bewegten sich unaufhörlich, aber Clary wusste nicht, ob er fluchte, betete oder eine weitere Beschwörungsformel murmelte. »Lass mich endlich los!«, brüllte Clary.
In diesem Moment wandte Sebastian sich ihr zu, mit einem Furcht einflößenden Ausdruck auf dem Gesicht – eine Mischung aus Grinsen und Zähnefletschen. »Bring sie zum Schweigen, Jace!«
Doch Jace, der Clary noch immer festhielt, erwiderte: »Wollen wir hier nur rumstehen und tatenlos zusehen, wie uns die anderen beschützen?« Er deutete mit dem Kinn auf die Reihen der roten Schattenjäger.
»Ganz genau«, bestätigte Sebastian. »Denn wir, du und ich, sind zu wichtig. Uns darf nichts zustoßen.«
Jace schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht. Auf der anderen Seite kämpfen zu viele.« Er reckte den Hals, um über die Menge hinwegzuschauen. »Was ist mit Lilith? Kannst du sie nicht zurückrufen, damit sie uns hilft?«
»Was? Etwa hier?« Verachtung sprach aus Sebastians Stimme. »Nein. Außerdem ist sie noch zu schwach, um uns beizustehen. Früher hätte sie eine ganze Armee vernichten können, aber dieser Dreckskerl von Schattenweltler mit dem Kainsmal hat ihre Essenz in der Leere zwischen den Welten zerstreut. Es hat sie schon ihre ganze Kraft gekostet, hier zu erscheinen und uns ihr Blut zu geben.«
»Du Feigling«, fauchte Clary Sebastian an. »Du hast diese Nephilim in deine Sklaven verwandelt und rührst keinen Finger, um sie zu beschützen…«
Wütend hob Sebastian die Hand, als wollte er sie ohrfeigen. Clary wünschte sich, er würde sie schlagen, damit Jace es sehen konnte. Stattdessen ließ Sebastian die Hand sinken und verzog die Lippen zu einem hämischen Grinsen. »Wenn Jace dich losließe, würdest du sicher kämpfen, oder?«
»Selbstverständlich würde ich das…«
»Und auf wessen Seite?« Blitzschnell trat Sebastian auf Clary zu und hob den Höllenkelch. Clary konnte einen Blick hineinwerfen: Obwohl so viele Nephilim bereits davon getrunken hatten, war die Menge an Blut, die darin schwappte, unverändert. »Heb ihren Kopf an, Jace.«
»Nein!« Clary verdoppelte ihre Anstrengungen und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Jace’ Finger schoben sich unter ihr Kinn, doch Clary glaubte, ein Zögern in seiner Handbewegung zu spüren.
»Sebastian«, setzte er an. »Nicht…«
»Tu es! Jetzt!«, befahl Sebastian. »Für uns besteht kein Grund, noch länger hierzubleiben. Wir sind wichtig, nicht dieses Kanonenfutter. Wir haben bewiesen, dass der Höllenkelch funktioniert – das ist das Einzige, was zählt.« Höhnisch grinsend krallte er seine Hand in Clarys Kleid. »Aber wir können wesentlich leichter fliehen, wenn dieses Miststück nicht die ganze Zeit schreit und strampelt und um sich tritt.«