Luke warf einen Blick auf die Zeitschriften und seufzte. »Jocelyn dachte, es würde uns guttun, die Hochzeit zu planen… wieder zur Normalität zurückzukehren und all das.« Dunkle Schatten lagen unter seinen blauen Augen. Jocelyn hatte ihm von Amatis’ Verwandlung erzählt, als Luke noch im Krankenzimmer der alten Polizeiwache gelegen hatte. Obwohl Clary ihn bei seiner Heimkehr fest umarmt hatte, war er mit keinem Wort auf das Schicksal seiner Schwester eingegangen – und auch Clary hatte geschwiegen. »Wenn es nach mir ginge, würde ich mit Jocelyn nach Vegas durchbrennen und uns für fünfzig Dollar von Elvis in einer auf Piratenwelt dekorierten Hochzeitskapelle trauen lassen.«
»Ich könnte die als Matrosendirne gekleidete Brautjungfer sein«, schlug Clary vor und schaute erwartungsvoll zu Simon. »Und du kannst…«
»Oh, nein«, protestierte er. »Ich bin ein hipper Typ und viel zu cool für Mottohochzeiten.«
»Du spielst Dungeons & Dragons. Du bist ein Computerfreak«, berichtigte Clary ihn herzlich.
»Computerfreaks sind in«, verkündete Simon. »Die Damen stehen darauf.«
In dem Moment räusperte Luke sich. »Ich nehme an, dass ihr hereingekommen seid, um mir etwas mitzuteilen, oder?«
»Ich fahre jetzt zum Institut, um Jace zu besuchen«, erklärte Clary. »Soll ich dir auf dem Rückweg irgendwas mitbringen?«
Luke schüttelte den Kopf. »Deine Mutter ist gerade einkaufen.« Er beugte sich zu Clary vor, um ihr durch die Haare zu fahren, und zuckte dann zusammen. Seine Wunde verheilte, aber es dauerte. »Viel Spaß.«
Clary dachte daran, was ihr im Institut möglicherweise bevorstand – eine aufgebrachte Maryse, eine gelangweilte Isabelle, ein geistesabwesender Alec und ein Jace, der sie nicht sehen wollte – und seufzte: »Darauf kannst du wetten.«
Die Luft im U-Bahn-Tunnel roch eindeutig nach Winter – kaltes Metall, feuchte Erde und ein Anflug von Rauch. Alec, der über die Gleise lief, konnte seinen Atem als weiße Wolken aufsteigen sehen. Entschlossen schob er eine Hand in die Tasche seiner blauen Cabanjacke, um sie warm zu halten. In der anderen hielt er seinen Elbenlichtstein, der den Tunnel beleuchtete: grüne und cremefarbene Fliesen, denen man ihr Alter ansah, und verworrene Elektrokabel, die wie Spinnweben von den Wänden hingen. Dieser U-Bahn-Schacht war schon seit vielen Jahren stillgelegt.
Alec hatte sich aus dem Bett geschlichen, bevor Magnus aufgewacht war – nicht zum ersten Mal. Magnus schlief viel, um sich von der Schlacht mit den Dunklen Nephilim zu erholen. Zwar hatte er seine Selbstheilungskräfte reaktivieren können, doch er war noch nicht vollständig genesen. Hexenwesen mochten unsterblich sein, aber sie waren nicht unverwundbar und »wenn die Klinge ein paar Zentimeter höher getroffen hätte, dann wär’s das für mich gewesen«, hatte Magnus trübselig bemerkt, während er die Wunde inspizierte. »Denn dann hätte sie mich mitten ins Herz getroffen.«
In der Schlacht hatte Alec ein paar Minuten lang geglaubt, dass Magnus tot sei – und das, nachdem er so viel Zeit damit vergeudet hatte, sich Sorgen darüber zu machen, dass er selbst altern und lange vor Magnus sterben würde. Welch bittere Ironie des Schicksals das gewesen wäre! Und eine gerechte Strafe dafür, dass er Camilles Angebot ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, wenn auch nur für einen kurzen Moment.
Vor Alec tauchten nun Lichter auf: die Kronleuchter und Oberlichter der U-Bahn-Station City Hall. Er wollte seinen Elbenstein gerade wegstecken, als er hinter sich eine vertraute Stimme hörte.
»Alec. Alexander Gideon Lightwood.«
Erschrocken machte Alecs Herz einen Satz. Langsam drehte er sich um. »Magnus?«
Der Hexenmeister trat in den Lichtkegel von Alecs Elbenstein. Seine Miene wirkte ungewöhnlich ernst, seine Augen waren überschattet und seine stachligen Haare zerzaust. Er trug nur ein dünnes Jackett über seinem T-Shirt und Alec fragte sich unwillkürlich, ob er nicht fror.
»Magnus«, wiederholte Alec. »Ich dachte, du wärst zu Hause und würdest schlafen.«
»Offensichtlich hast du das gedacht«, erwiderte Magnus.
Alec musste schlucken. Er hatte Magnus nie zornig erlebt, jedenfalls nicht richtig. Und auf keinen Fall so wie jetzt. Seine katzenartigen Augen wirkten distanziert und unergründlich. »Bist du mir etwa gefolgt?«, fragte Alec.
»Das könnte man so sagen. Aber ich wusste, wohin du gehen würdest.« Steif holte Magnus einen gefalteten Zettel aus seiner Hosentasche. Im dämmrigen Licht konnte Alec lediglich erkennen, dass das Papier mit einer sorgfältigen, schwungvollen Handschrift bedeckt war. »Als sie mir gesagt hat, dass du hier sein würdest… und mir von der Vereinbarung erzählt hat, die sie mit dir getroffen hat… da hab ich ihr anfangs nicht geglaubt. Ich wollte ihr nicht glauben. Aber jetzt bist du hier.«
»Camille hat dir erzählt…«
Magnus hob eine Hand, um Alec das Wort abzuschneiden. »Hör auf«, sagte er müde. »Selbstverständlich hat sie es mir erzählt. Ich hab dich doch gewarnt, dass sie eine Meisterin der Andeutungen und der Manipulation ist, aber du hast mir nicht zugehört. Was glaubst du denn, wen sie lieber auf ihrer Seite hätte: dich oder mich? Du bist achtzehn Jahre alt, Alexander – nicht gerade der mächtigste Verbündete.«
»Ich hab ihr Angebot bereits abgelehnt«, erklärte Alec. »Hab ihr gesagt, dass ich Raphael nicht töten werde. Ich bin hierhergekommen und hab ihr mitgeteilt, dass der Deal geplatzt ist… dass ich es nicht tun würde…«
»Du hast extra den weiten Weg auf dich genommen, hierher zu dieser verlassenen U-Bahn-Station, nur um ihr das zu sagen?« Magnus zog die Augenbrauen hoch. »Meinst du nicht, du hättest die gleiche Botschaft übermitteln können, indem du einfach weggeblieben wärst?«
»Ich… äh…«
»Und selbst wenn du das alles – unnötigerweise – getan und ihr mitgeteilt hast, dass der Deal geplatzt ist…«, fuhr Magnus kalt und ruhig fort, »warum bist du dann jetzt hier? Ein Freundschaftsbesuch? Erklär es mir, Alexander – falls ich irgendetwas falsch verstanden haben sollte.«
Alec musste schlucken. Es gab doch bestimmt irgendeine Möglichkeit, das Ganze zu erklären… Magnus zu erklären, dass er hierhergekommen war, weil Camille die einzige Person war, mit der er über ihn reden konnte. Die einzige Person, die Magnus auf eine Weise kannte, wie er selbst ihn auch kannte: nicht als den Obersten Hexenmeister von Brooklyn, sondern als jemanden, der lieben und geliebt werden konnte, jemanden, der menschliche Schwächen und Eigenheiten und Launen hatte, von denen Alec nicht wusste, wie er ohne Hilfe damit umgehen sollte. »Magnus…«, setzte er an und trat einen Schritt auf seinen Freund zu.
Doch zum ersten Mal in ihrer Beziehung wich Magnus vor ihm zurück. Seine gesamte Haltung wirkte steif und abweisend und er musterte Alec wie einen Fremden… einen Fremden, den er nicht sonderlich mochte.
»Es tut mir so leid«, sagte Alec. Seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren heiser und zittrig. »Es war nie meine Absicht…«
»Ich hatte selbst mit dem Gedanken gespielt«, sagte Magnus. »Das war einer der Gründe, warum ich das Weiße Buch haben wollte: Unsterblichkeit kann eine Last sein, wenn man an all die Tage denkt, die noch vor einem liegen… wenn man bereits überall gewesen ist und alles gesehen hat. Nur eines hatte ich noch nicht erlebt: mit jemandem alt zu werden – mit jemandem, den ich liebe. Ich habe angenommen, dass du vielleicht derjenige sein könntest. Aber das gibt dir noch längst nicht das Recht, über die Länge meines Lebens bestimmen zu wollen.«
»Ich weiß.« Alecs Herz raste. »Ich weiß und das hatte ich ja auch gar nicht vor…«
»Ich werde den ganzen Tag unterwegs sein«, unterbrach Magnus ihn. »Also fahr in die Wohnung und hol deine Sachen. Den Schlüssel kannst du auf den Esstisch legen.« Er musterte Alec eindringlich. »Es ist vorbei. Ich will dich nicht mehr wiedersehen, Alec. Dich oder einen deiner Freunde. Ich bin es leid, ihren Hexenmeister vom Dienst zu spielen.«