»Ich dachte, die Suche nach Jace würde eingestellt«, sagte sie ausweichend und schaute weg.
»Na ja, nicht vollständig eingestellt, eher reduziert. Aber ich bin Mitglied der Praetor und nicht des Rats. Ich kann in meiner Freizeit also nach Jace suchen.«
»Stimmt«, murmelte Maia.
Jordan spielte mit irgendetwas auf der Küchentheke, schob es nervös hin und her, doch sein Blick ruhte noch immer auf ihr. »Möchtest du… Früher wolltest du doch nach Stanford aufs College gehen. Möchtest du immer noch dort studieren?«, fragte er.
Maias Herz machte einen Sprung. »Ich hab nicht mehr darüber nachgedacht, seit ich…« Sie räusperte sich. »Seit meiner Verwandlung.«
Sofort lief Jordan rot an. »Du hattest… ich meine, du wolltest doch immer nach Kalifornien ziehen. Du hattest vor, Geschichte zu studieren, und ich wollte mitkommen, um zu surfen. Weißt du noch?«
Langsam schob Maia die Hände in die Taschen ihrer Lederjacke. Sie hatte das Gefühl, unendlich wütend auf ihn sein zu müssen – sie war es aber nicht. Lange Zeit hatte sie Jordan die Schuld daran gegeben, dass sie ihren Traum von einem normalen menschlichen Leben mit Schule und Ausbildung und später vielleicht einmal einem Haus und Familie aufgeben musste. Aber in der Polizeiwache gab es genügend andere Werwölfe, die ihre Träume und Talente weiterhin verfolgten. Bat beispielsweise. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen, ihr Leben auf Sparflamme zu setzen. »Ja, ich erinnere mich«, sagte sie nun.
Jordans Wangen röteten sich noch stärker. »Um noch mal auf heute Abend zurückzukommen: Bisher hat noch niemand den Brooklyn Navy Yard durchsucht, deshalb dachte ich… Aber allein macht das keinen richtigen Spaß. Wenn du allerdings keine Lust hast mitzukommen…«
»Nein, nein«, sagte Maia; die Worte klangen in ihren Ohren, als stammten sie von einer anderen Person. »Ich meine: doch, klar. Ich komme mit.«
»Wirklich?« Jordans grün-braune Augen leuchteten auf.
Maia verfluchte sich innerlich. Sie sollte ihm keine falschen Hoffnungen machen – nicht, solange sie sich nicht sicher war, was sie selbst empfand. Es fiel ihr immer noch schwer zu glauben, dass ihm wirklich etwas an ihr lag.
Das Praetor-Lupus-Medaillon glänzte an seinem Hals, als er sich vorbeugte, und Maia konnte den vertrauten Seifenduft riechen – und darunter den Wolfsgeruch. Sie schaute zu ihm hoch… gerade als Simon aus seinem Zimmer kam und sich den Kapuzenpulli überstreifte.
Beim Anblick der beiden blieb er abrupt stehen. Mit hochgezogenen Augenbrauen wanderte sein Blick von Jordan zu Maia. »Hör mal, ich kann auch allein zur U-Bahn gehen«, versicherte er Maia, wobei ein leises Lächeln seine Lippen umspielte. »Falls du lieber hierbleiben willst…«
»Nein, nein.« Hastig nahm Maia die Hände aus den Taschen, die sie dort die ganze Zeit über nervös zu Fäusten geballt hatte. »Nein, ich komm mit. Jordan, ich… ich seh dich dann später.«
»Bis nachher!«, rief er ihr nach, doch Maia drehte sich nicht mehr um – sie beeilte sich, Simon ins Treppenhaus zu folgen.
Simon trottete allein den sanft ansteigenden Hügel hinauf und hörte die Rufe der Frisbee-Spieler auf der Sheep Meadow hinter sich wie weit entfernt spielende Musik. Es war ein strahlender Novembertag, frisch und windig, und die Sonne ließ das restliche Laub der Bäume in bunten Farben aufleuchten – Scharlachrot, Goldorange, Bernsteingelb.
Die Hügelkuppe war mit Felsbrocken übersät – von hier aus ließ sich gut erkennen, dass das Gelände früher nur eine Wildnis aus Wald und Steinen gewesen war. Isabelle saß auf einem der massiven Felsen; sie trug ein langes Kleid aus flaschengrüner Seide und darüber einen schwarzen, mit Silberfaden bestickten Mantel. Als Simon näher kam, schaute sie auf und strich sich die langen dunklen Haare aus dem Gesicht. »Ich dachte, Clary begleitet dich«, rief sie ihm zu. »Wo ist sie?«
»Noch im Institut, aber auf dem Weg hierher«, erklärte Simon, hockte sich dann neben Isabelle auf den Felsblock und steckte die Hände in die Taschen seiner Windjacke. »Sie hat mir eine SMS geschickt – sie müsste gleich hier sein.«
»Alec ist ebenfalls auf dem Weg…«, setzte Isabelle an, verstummte aber, als Simons Tasche plötzlich vibrierte – oder vielmehr, als das Handy in seiner Tasche brummte. »Ich glaub, da hat dir jemand ’ne Nachricht geschickt.«
Simon zuckte die Achseln. »Darum kümmer ich mich später.«
Isabelle warf ihm unter ihren langen Wimpern einen skeptischen Blick zu. »Na, wie schon gesagt, Alec ist auch auf dem Weg hierher. Er musste die ganze Strecke von Brooklyn aus…«
Erneut brummte Simons Telefon und hörte damit gar nicht mehr auf.
»Okay, jetzt reicht’s. Wenn du nicht rangehst, mach ich das eben.« Isabelle beugte sich vor und griff blitzschnell in seine Jackentasche.
Dabei streiften ihre Haare sein Kinn, sodass er ihr Vanilleparfüm und den Duft ihrer Haut riechen konnte. Als sie das Handy aus der Tasche zog und sich wieder aufrichtete, war er erleichtert und enttäuscht zugleich.
Fragend spähte Isabelle auf das Display. »Rebecca? Wer ist Rebecca?«
»Meine Schwester.«
Isabelle entspannte sich. »Sie will sich mit dir treffen. Sie schreibt, sie hätte dich seit einer Ewigkeit nicht gesehen, seit…«
Rasch schnappte Simon sich sein Telefon und schaltete es aus, ehe er es wieder in seine Tasche gleiten ließ. »Ich weiß, ich weiß.«
»Willst du sie denn nicht sehen?«
»Mehr als… mehr als fast alles andere. Aber ich will nicht, dass sie es erfährt. Das mit mir.« Simon hob einen Stock auf und warf ihn den Hügel hinunter. »Du weißt ja, was passiert ist, als meine Mom davon erfahren hat.«
»Dann triff dich doch an einem öffentlichen Ort mit ihr. Irgendwo, wo sie nicht ausflippen kann. Weit weg von eurem Elternhaus.«
»Aber selbst wenn sie nicht ausflippt, könnte sie mich immer noch so ansehen, wie meine Mom mich angesehen hat«, erwiderte Simon mit leiser Stimme. »So, als wäre ich ein Monster.«
Vorsichtig berührte Isabelle Simon am Handgelenk. »Meine Mutter hat Jace vor die Tür gesetzt, weil sie dachte, er wäre Valentins Sohn und ein Spion – und hat es anschließend furchtbar bereut. Und meine Eltern gewöhnen sich gerade an den Gedanken, dass Alec mit Magnus zusammen ist. Ich bin mir sicher, dass auch deine Mutter sich irgendwann an dein Vampirdasein gewöhnen wird. Versuch, deine Schwester auf deine Seite zu bringen. Das hilft bestimmt.« Isabelle neigte den Kopf leicht zur Seite. »Manchmal denke ich, Geschwister verstehen mehr als Eltern. Der Erwartungsdruck ist nicht so groß. Ich könnte Alec niemals aus meinem Leben verbannen – ganz gleich, was er getan hätte. Niemals. Und Jace auch nicht«, fügte sie hinzu, drückte Simons Arm und ließ ihn dann los. »Mein kleiner Bruder ist tot. Ich werde ihn nie wiedersehen. Tu das deiner Schwester nicht an.«
»Was soll er ihr nicht antun?«, fragte in dem Moment eine Stimme. Alec kam den Hügel hinaufgestapft und kickte dabei trockenes Laub aus dem Weg. Er trug wie üblich einen fransigen Pullover über der Jeans und hatte einen dunkelblauen Schal um den Hals gewickelt, der farblich zu seinen Augen passte.
Der Schal musste ein Geschenk von Magnus sein, dachte Simon. Alec konnte ihn unmöglich selbst gekauft haben – die Idee farblich aufeinander abgestimmter Kleidung lag jenseits seiner Vorstellungswelt.
Isabelle räusperte sich. »Simons Schwester möchte…«, setzte sie an, doch weiter kam sie nicht. Denn im nächsten Moment fegte ein kalter Wind über den Hügel und wirbelte die trockenen Blätter auf. Isabelle riss schützend die Hände vors Gesicht, um den Staub abzuhalten, als die Luft plötzlich transparent zu schimmern begann und sich die unverkennbaren Anzeichen eines sich öffnenden Portals ankündigten. Einen Sekundenbruchteil später stand Clary vor ihnen, mit der Stele in der Hand und tränenüberströmtem Gesicht.
4
Unsterblichkeit
»Und du bist dir absolut sicher, dass es Jace war?«, fragte Isabelle bestimmt zum hundertsten Mal – zumindest kam es Clary so vor.