Alec schwieg.
»Natürlich nicht«, beantwortete Camille ihre eigene Frage. »Ich Dummerchen! Als ob Magnus wüsste, wo du gerade steckst…«
»Woher hast du gewusst, dass ich es bin? Eben auf der Treppe?«, fragte Alec.
»Du bist ein Lightwood«, erklärte Camille. »Und deine Familie gibt niemals auf. Ich wusste, du würdest dich mit dem, was ich dir in jener Nacht gesagt habe, nicht zufriedengeben. Die Nachricht, die ich dir heute zukommen ließ, war nur eine kleine Gedächtnisstütze.«
»Du brauchst mich nicht daran zu erinnern, was du mir versprochen hast. Oder war das eine Lüge?«
»In jener Nacht hätte ich alles versprochen, nur um freizukommen«, erwiderte die Vampirdame. »Aber ich habe nicht gelogen.« Langsam beugte sie sich vor; ihre grünen Augen leuchteten und waren düster zugleich. »Du bist ein Nephilim, Mitglied des Rats und der Kongregation. Auf mich ist ein Kopfgeld ausgesetzt, wegen des Mordes an mehreren Schattenjägern. Aber ich weiß, dass du nicht hier bist, um mich dem Rat zu übergeben. Du suchst Antworten.«
»Ich will wissen, wo Jace ist«, erwiderte Alec.
»Sicher möchtest du das«, bestätigte Camille. »Doch du weißt natürlich, dass es keinen Grund gibt, warum ich eine Antwort darauf haben sollte. Und genauso ist es auch: Ich weiß es nicht. Ich würde es dir sagen, wenn ich es wüsste. Mir ist lediglich bekannt, dass Jace von Liliths Sohn entführt wurde, und ich habe keinerlei Veranlassung, ihr gegenüber loyal zu sein. Lilith existiert nicht mehr. Und natürlich bin ich darüber informiert, dass Suchtrupps ausgeschickt wurden, um mich aufzuspüren und herauszufinden, was ich möglicherweise weiß. Doch ich kann dir hier und jetzt versichern: Ich habe nicht die geringste Kenntnis über seinen Verbleib. Wenn ich wüsste, wo dein Freund sich aufhält, würde ich es dir sagen. Schließlich will ich die Nephilim nicht noch mehr gegen mich aufbringen.« Camille fuhr sich mit einer Hand durch ihr dichtes blondes Haar. »Aber deswegen bist du nicht hier. Gib es zu, Alexander.«
Alec spürte, wie sein Atem schneller ging. Er hatte sich diesen Moment oft vorgestellt, vor allem nachts, wenn er wach neben Magnus gelegen hatte, auf dessen ruhige Atmung gelauscht und seine eigenen Atemzüge gezählt hatte. Jeder Atemzug brachte ihn einen Schritt näher in Richtung Alter und Tod. Jede Nacht dem Ende ein Stück näher. »Du hast gesagt, du kennst eine Möglichkeit, mich unsterblich zu machen«, entgegnete Alec. »Du hast gesagt, du wüsstest einen Weg, wie Magnus und ich für immer zusammenbleiben könnten.«
»Das habe ich tatsächlich gesagt? Wie interessant.«
»Ich will, dass du es mir jetzt verrätst.«
»Und das werde ich auch«, bekräftigte Camille und legte das Buch beiseite. »Gegen entsprechende Bezahlung.«
»Keine Bezahlung«, widersprach Alec. »Ich habe dich freigelassen. Und jetzt wirst du mir erzählen, was ich wissen will. Oder ich werde dich dem Rat übergeben. Der wird dich an das Dach des Instituts ketten und in Ruhe den Sonnenaufgang abwarten.«
Camilles Augen bekamen einen harten Ausdruck. »Drohungen schätze ich nicht.«
»Dann gib mir die Information, die ich haben will.«
Langsam erhob die Vampirdame sich vom Sofa, strich mit den Händen über die Vorderseite ihrer Anzugjacke und glättete die Falten. »Komm doch und hol sie dir, Schattenjäger.«
Schlagartig platzten die angestaute Frustration, die Angst und die Verzweiflung der vergangenen zwei Wochen aus ihm heraus: Alec stürmte auf Camille zu, die sich mit ausgefahrenen Fangzähnen auf ihn stürzte. Dem jungen Nephilim blieb kaum Zeit, seine Seraphklinge zu zücken, als sie auch schon zum Sprung ansetzte. Er hatte schon zuvor gegen Vampire gekämpft; ihre Schnelligkeit und Kraft war erstaunlich und es kam ihm jedes Mal so vor, als würde er gegen einen heranbrausenden Tornado antreten. Rasch warf er sich zur Seite, rollte sich ab, kam wieder auf die Beine und trat eine fallende Leiter in Camilles Richtung. Die Leiter hielt die Vampirin gerade lange genug auf, dass Alec das Engelsschwert heben und dessen Namen flüstern konnte: »Nuriel.«
Das Licht der Waffe flammte auf wie ein heller Stern und ließ Camille einen Moment zögern, dann aber stürzte sie sich erneut auf Alec. Dabei kratzte sie ihm mit ihren langen Fingernägeln Wange und Schulter auf. Alec spürte das warme Blut hervordrängen; blitzschnell wirbelte er um die eigene Achse und schlug mit dem Engelsschwert nach Camille. Sie sprang hoch in die Luft, knapp außerhalb seiner Reichweite, und lachte spöttisch.
Alec stürmte zur Treppe, die zum Bahnsteig hinunterführte, dicht gefolgt von Camille, doch er war schneller: Leichtfüßig wich er zur Seite aus, wirbelte herum, drückte sich mit den Füßen von der Wand ab und sprang im selben Moment auf die Vampirin zu, als diese die Stufen hinunterhechtete, sodass sie in der Luft zusammenprallten: Camille schrie wie wild und schlug nach ihm, doch Alec hielt sie am Arm fest – selbst als beide krachend auf dem Bahnsteig landeten und der Aufprall ihm die Luft aus den Lungen presste. Um sie besiegen zu können, musste er sie am Boden halten. Alec schickte Jace ein stummes Dankesgebet – dafür, dass er ihn gezwungen hatte, im Fechtsaal wieder und wieder Salti zu üben, bis Alec sich von nahezu jeder Oberfläche abstoßen und wenigstens ein oder zwei Sekunden in der Luft umherwirbeln konnte.
Während sie über den Bahnsteig rollten, schlug er immer wieder mit der Seraphklinge auf sie ein, aber Camille wehrte seine Angriffe mühelos ab, indem sie sich so schnell bewegte, dass ihre Silhouette vor Alecs Augen zu verschwimmen begann. Gleichzeitig trat sie ihn mit ihren hochhackigen Schuhen und bohrte ihm die spitzen Absätze in die Oberschenkel. Alec zuckte zusammen und fluchte und Camille ließ eine beeindruckende Schimpftirade über Alecs Liebesleben mit Magnus und ihr eigenes Liebesleben mit dem Hexenmeister vom Stapel. Und vermutlich hätte sie ihm noch mehr an den Kopf geworfen, wenn die beiden nicht die Mitte des Bahnsteigs erreicht hätten, wo durch die Luke in der Decke ein kreisrunder Sonnenstrahl auf den Boden fiel. Sofort packte Alec Camille am Handgelenk und drückte ihre Hand nach unten, direkt ins Licht.
Die Vampirin kreischte ohrenbetäubend auf und gewaltige Brandblasen bildeten sich auf ihrer weißen Haut. Alec konnte die Hitze, die von ihrer brodelnden Hand ausging, förmlich spüren. Rasch verschränkte er seine Finger mit Camilles und riss ihre Hand hoch, zurück in die Schatten. Camille fauchte und schnappte nach ihm, doch Alec rammte ihr den Ellbogen in den Mund, sodass ihre Lippe aufplatzte. Rubinrotes Vampirblut – leuchtender als menschliches Blut – tropfte ihr aus dem Mundwinkel.
»Hast du jetzt endlich genug? Oder willst du noch mehr?«, knurrte Alec und senkte ihre Hand mit den bereits verheilenden und zu rosa Flecken verblassenden Brandblasen in Richtung des Sonnenstrahls.
»Nein!«, stieß Camille keuchend hervor, hustete – und begann dann zu beben, bis ihr ganzer Körper unkontrolliert zuckte. Alec benötigte einen Augenblick, um zu erkennen, dass sie lachte – trotz des ganzen Bluts. »Das hab ich gebraucht, einen guten Kampf. Jetzt fühl ich mich gleich viel lebendiger, kleiner Nephilim. Eigentlich sollte ich dir danken.«
»Du kannst mir danken, indem du mir meine Frage beantwortest«, erwiderte Alec keuchend. »Oder ich werde dich einäschern. Ich habe keine Lust mehr auf deine Spielchen.«
Camilles Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. Die Wunden in ihrem blutverschmierten Gesicht waren bereits verheilt. »Es gibt keinen Weg, dich unsterblich zu machen. Jedenfalls nicht ohne den Einsatz von Schwarzer Magie oder durch deine Verwandlung zum Vampir – und diese Optionen hast du ja bereits abgelehnt.«
»Aber du hast doch gesagt… du hast gesagt, es gäbe noch eine andere Möglichkeit, wie Magnus und ich zusammen sein könnten…«
»Oh, ja, natürlich, die gibt es.« Camilles Augen funkelten. »Du magst zwar nicht in der Lage sein, dich selbst unsterblich zu machen, kleiner Nephilim – zumindest nicht zu den Bedingungen, die dir angenehm wären. Aber du kannst Magnus seine Unsterblichkeit nehmen.«