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Clary saß in ihrem Zimmer in Lukes Wohnung, einen Stift in der Hand, einen Bogen Papier auf dem Schreibtisch vor sich. Die Sonne war bereits untergegangen und die Schreibtischlampe warf ihr helles Licht auf eine Rune, an der Clary gerade zu arbeiten begonnen hatte.

Die Idee dazu war ihr auf dem Heimweg gekommen, in einem Abteil der Linie L, als sie aus dem Fenster gestarrt hatte. Es war eine völlig neue Rune, die sich mit nichts aus dem Grauen Buch vergleichen ließ – also war Clary von der Haltestelle nach Hause gestürmt, solange sie das Bild noch deutlich vor Augen hatte, hatte die Fragen ihrer Mutter abgewiegelt, sich in ihr Zimmer verzogen und hastig zu Papier und Bleistift gegriffen…

Als kurz darauf jemand leise an der Tür klopfte, schob Clary das Papier mit der angefangenen Runenzeichnung rasch unter ein leeres Blatt, und eine Sekunde später kam ihre Mutter auch schon ins Zimmer.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Jocelyn und hielt abwehrend eine Hand hoch, als Clary zu protestieren begann. »Du willst in Ruhe gelassen werden. Aber Luke hat gekocht und du musst etwas essen.«

Clary warf ihrer Mutter einen skeptischen Blick zu: »Das Gleiche gilt für dich.« Genau wie sie selbst neigte auch Jocelyn dazu, bei Stress jeglichen Appetit zu verlieren. Ihre Wangen wirkten inzwischen ziemlich eingefallen. Eigentlich hätte ihre Mutter jetzt Vorbereitungen für ihre Flitterwochen treffen sollen, die Koffer packen und sich auf eine tolle Reise an einen schönen, weit entfernten Ort freuen. Doch die Hochzeit war auf unbestimmte Zeit verschoben und Clary konnte durch die Wand hören, wie ihre Mutter nachts weinte. Clary kannte diese Tränen nur zu gut: Sie entsprangen einer Mischung aus Wut und Gewissensbissen – einem Gefühl, das einem sagte: Das ist alles nur meine Schuld.

»Ich werde etwas essen, wenn du auch einen Happen isst«, bot Jocelyn nun an und zwang sich zu einem Lächeln. »Luke hat Nudeln gekocht.«

Langsam drehte Clary sich auf ihrem Stuhl um. Dabei neigte sie ihren Körper bewusst so zur Seite, dass ihre Mutter nicht auf den Schreibtisch sehen konnte. »Mom«, setzte sie an. »Ich wollte dich mal was fragen.«

»Worum geht’s?«

Clary knabberte an ihrem Stift – eine schlechte Angewohnheit, die sie bereits seit ihren allerersten Malversuchen begleitete. »Als ich mit Jace in der Stillen Stadt war, haben die Brüder mir erzählt, dass nach der Geburt eines Schattenjägerkindes ein Ritual vollzogen wird: Sowohl die Brüder der Stille als auch die Eisernen Schwestern versehen das Neugeborene mit einer Reihe von Schutzzaubern. Und da habe ich mich gefragt…«

»Ob diese Zeremonie auch bei dir durchgeführt wurde?«

Clary nickte.

Jocelyn holte tief Luft und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Das Ritual wurde vollzogen«, bestätigte sie. »Ich habe Magnus alle nötigen Vorbereitungen treffen lassen: Ein Bruder der Stille war anwesend – jemand, der zur Verschwiegenheit verpflichtet war – und eine Hexe, die die Eisernen Schwestern vertrat. Anfangs wollte ich nichts von der Zeremonie wissen: Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass du vielleicht in Gefahr schweben könntest, nachdem ich dich so sorgfältig verborgen gehalten hatte. Aber Magnus hat mich schließlich überredet und damit auch recht behalten.«

Neugierig musterte Clary ihre Mutter. »Wer war denn die Hexe?«

»Jocelyn!«, rief Luke in diesem Moment aus der Küche. »Das Wasser kocht über!«

Rasch drückte Jocelyn Clary einen Kuss auf die Stirn. »Tut mir leid. Küchenkrise! Kommst du in fünf Minuten zum Essen?«

Clary nickte, während ihre Mutter bereits aus dem Zimmer lief, und wandte sich wieder ihrem Schreibtisch zu. Die angefangene Rune leuchtete ihr vom Papier entgegen und ließ ihr keine Ruhe. Sofort machte Clary sich wieder an die Arbeit und vervollständigte die Zeichnung. Als sie fertig war, lehnte sie sich zurück und betrachtete ihr Werk. Das Design erinnerte ein wenig an eine Entriegelungsrune, aber diese Rune hier war so schlicht wie ein Kreuz und so frisch auf dieser Welt wie ein Neugeborenes. Und aus ihr sprach eine unterschwellige Drohung – eine dunkle Aura, die bezeugte, dass sie aus Clarys Zorn und Schuldgefühlen und einer ohnmächtigen Wut entsprungen war.

Es handelte sich um ein mächtiges Symbol. Doch obwohl Clary genau wusste, was die Rune bedeutete und wozu sie diente, fiel ihr beim besten Willen nicht ein, wie sie sie in der jetzigen Situation sinnvoll nutzen konnte. Als wäre sie mit dem Wagen auf einer einsamen Landstraße liegen geblieben und hätte beim verzweifelten Herumwühlen im Kofferraum eine Verlängerungsschnur gefunden anstatt eines Starthilfekabels.

Clary hatte das Gefühl, von ihrer eigenen Fähigkeit ausgelacht zu werden. Mit einem unterdrückten Fluchen warf sie den Stift auf den Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen.

Die Innenräume des ehemaligen Marinehospitals waren sorgfältig gekalkt, was den Wandflächen einen unheimlichen Glanz verlieh. Viele der Fenster hatte man mit Brettern zugenagelt, doch selbst in diesem Dämmerlicht konnte Maia dank ihres gesteigerten Sehvermögens alle Einzelheiten erkennen: herabgerieselter Putz auf den nackten Böden der Gänge, Spuren von den Ständern der Baulampen in den Dielen, kurze Kabelabschnitte, die unter dicken Farbklecksen an den Wänden klebten, Mäuse, die in den dunklen Ecken herumhuschten.

Plötzlich sprach eine Stimme sie von hinten an: »Ich hab den gesamten Ostflügel durchsucht. Nichts. Wie sieht’s bei dir aus?«

Maia drehte sich um. Jordan stand hinter ihr; er trug eine dunkle Jeans und eine schwarze Sweatshirtjacke mit halb geöffnetem Reißverschluss über einem grünen T-Shirt. Maia schüttelte den Kopf. »Auch im Westflügel nicht die geringste Spur. Nur ziemlich morsche Treppen und ein paar interessante architektonische Details, falls du dich für so was interessierst.«

Verneinend schüttelte Jordan den Kopf. »Dann lass uns verschwinden. Dieser Ort hier ist mir unheimlich.«

Maia konnte ihm nur zustimmen und war erleichtert, dass nicht sie es laut hatte aussprechen müssen. Gemeinsam stiegen sie eine Treppe hinunter, deren Geländer mit so viel heruntergerieseltem Putz bedeckt war, dass es fast so aussah, als würde Schnee darauf liegen. Maia war sich nicht ganz sicher, warum sie eingewilligt hatte, mit Jordan auf Patrouille zu gehen, aber sie musste zugeben, dass sie beide ein ganz ordentliches Team abgaben. Mit Jordan konnte man gut auskommen – trotz der Dinge, die sich kurz vor Jace’ Verschwinden zwischen ihnen abgespielt hatten, zeigte er sich respektvoll und hielt einen gewissen Abstand, ohne dass sie sich dabei unwohl fühlte.

Der Mond warf sein helles Licht auf die beiden jungen Werwölfe, als sie das alte Hospital verließen, auf den Vorplatz hinaustraten und sich noch einmal zu dem großen weißen Marmorgebäude umschauten, dessen zugenagelte Fenster wie blinde Augen wirkten. Ein knorriger Baum, der seine letzten Blätter abwarf, kauerte neben der Eingangstür.

»Na, das war echt die reinste Zeitverschwendung«, bemerkte Jordan.

Verstohlen sah Maia in seine Richtung: Jordan musterte das ehemalige Marinehospital und das kam ihr gelegen. Denn sie betrachtete ihn gern, wenn er nicht zu ihr hinschaute. Auf diese Weise konnte sie die Konturen seines Kinns studieren, die leicht gelockten dunklen Haare in seinem Nacken, die geschwungene Linie seines Schlüsselbeins unter dem V-Ausschnitt seines T-Shirts, ohne ihm dabei gleich Hoffnungen zu machen.

Als sie ihn kennengelernt hatte, war er ein attraktiver Indie-Rocker gewesen, mit kantigen Zügen und langen Wimpern, doch inzwischen war er älter geworden – mit narbigen Fingerknöcheln und Muskeln, die sich unter seinem eng anliegenden T-Shirt geschmeidig hin und her bewegten. Geblieben waren jedoch der Olivton seiner Haut, der von seinen italienischen Wurzeln zeugte, und die grünbraunen Augen, jetzt allerdings mit einem goldenen Ring um die Pupille – ein Kennzeichen der Lykanthropie. Die gleichen Pupillen, die auch ihr jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenschauten. Die Pupillen, die sie seinetwegen besaß.