Maia schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht… ich… ich kann einfach nicht.«
»Okay«, sagte Jordan. Er wirkte sehr verwundbar und ziemlich durcheinander. »Wir brauchen nichts… ich meine, wir müssen ja nichts tun…«
Verzweifelt suchte Maia nach den richtigen Worten. »Das ist mir einfach alles zu viel.«
»Es war nur ein Kuss.«
»Du hast gesagt, dass du mich lieben würdest.« Ihre Stimme zitterte. »Und du hast mir deine gesamten Ersparnisse angeboten. Ich kann das nicht von dir annehmen.«
»Was kannst du nicht annehmen?«, fragte er leise und verletzt. »Mein Geld oder meine Liebe?«
»Weder noch. Ich kann das einfach nicht, okay? Nicht mit dir, nicht jetzt«, sagte Maia und entfernte sich langsam von ihm.
Jordan schaute ihr nach, die Lippen leicht geöffnet.
»Lass mich jetzt allein, bitte«, fügte Maia hinzu, drehte sich dann um und hastete den Weg zurück, den sie gekommen waren.
5
Valentins Sohn
Ein weiteres Mal träumte sie von eisigen Landschaften. Bitterkalte Tundra, so weit das Auge reichte, langsam treibende Eisschollen auf den schwarzen Fluten des Nordpolarmeers, schneebedeckte Berge und schließlich eine aus Eis gehauene Stadt mit glitzernden Türmen, wie die Dämonentürme von Alicante.
Vor der vereisten Stadt lag ein zugefrorener See. Clary rutschte einen steilen Hang hinab, um zum Ufer zu gelangen, obwohl sie nicht wusste, warum sie das tat. In der Mitte des Sees standen zwei dunkle Gestalten auf der Eisfläche. Als Clary sich stolpernd und schlitternd dem See näherte – ihre Hände brannten von der Berührung mit dem Eis, und Schnee drang in ihre Schuhe –, erkannte sie, dass es sich bei einer der beiden Gestalten um einen Jungen handelte – mit schwarzen Schwingen, die sich wie Krähenflügel hinter seinem Rücken ausbreiteten. Seine Haare schimmerten so weiß wie das umliegende Eis. Sebastian. Und neben Sebastian stand Jace, dessen goldblondes Haar die einzige Farbe in der vereisten Landschaft aus schwarzen und weißen Schattierungen war. Als Jace sich von Sebastian abwandte und auf Clary zuging, brachen hinter seinem Rücken weißgolden schimmernde Schwingen hervor.
Clary schlitterte die letzten Meter zur zugefrorenen Böschung hinunter und fiel dort erschöpft und keuchend auf die Knie. Ihre Hände bluteten und waren blau angelaufen, ihre Lippen waren gesprungen und ihre Lungenflügel schmerzten bei jedem eisigen Atemzug. »Jace«, wisperte sie.
Einen Sekundenbruchteil später war er bei ihr und half ihr auf, während seine Schwingen sie warm umfingen. Im nächsten Moment begann ihr Körper aufzutauen, vom Herz über die Adern bis hin zu ihren Händen und Füßen, die mit einem schmerzhaften und zugleich angenehmen Prickeln wieder zum Leben erwachten.
»Clary«, sagte Jace und strich ihr sanft übers Haar. »Versprichst du mir, nicht zu schreien?«
Clary schlug die Augen auf. Einen Moment fühlte sie sich derartig orientierungslos, dass sich die Welt um sie herum zu drehen schien wie auf einem Kettenkarussell. Doch schließlich erkannte sie, dass sie sich in ihrem Zimmer in Lukes Haus befand: der vertraute Futon, ihr Kleiderschrank mit dem gesprungenen Spiegel in der Tür, die Fenster, die auf den East River hinausgingen, und der Heizkörper, der leise rauschte und fauchte. Silbernes Dämmerlicht drang durch die Fensterscheiben und über dem Schrank glühte das rote Lämpchen des Rauchmelders. Clary lag auf der Seite, unter einem Berg von Decken, und ihr Rücken fühlte sich angenehm warm an. Ein fremder Arm drückte auf ihre Hüfte. Einen kurzen Augenblick – während dieses dämmrigen, nicht ganz klaren Zustands zwischen Schlafen und Wachen – fragte sie sich, ob Simon in der Nacht vielleicht durch das Fenster geklettert war und sich neben sie gelegt hatte, so wie sie schon als Kinder oft in einem Bett übernachtet hatten.
Aber Simon strahlte keine Körperwärme aus.
Clarys Herz machte einen Satz. Sie war schlagartig hellwach und drehte sich unter der Bettdecke um. Neben ihr lag Jace, den Kopf in die Hand gestützt, und schaute sie an. Im schwachen Mondlicht schimmerte sein Haar wie ein Heiligenschein und seine Augen funkelten golden wie die einer Katze. Er war vollständig bekleidet und trug noch immer das kurzärmelige weiße T-Shirt, in dem Clary ihn auch in der Bibliothek gesehen hatte. Und seine nackten Arme waren mit Runen übersät, die sich wie Ranken um seine Muskeln wanden.
Überrascht schnappte Clary nach Luft. Jace, ihr Jace, hatte sie noch nie auf diese Weise betrachtet. Natürlich hatte er sie bereits verlangend angeschaut, aber nicht mit diesem lauernden, raubtierartigen, verschlingenden Blick, der ihren Puls beschleunigte und ihren Herzschlag außer Takt brachte.
Clary öffnete den Mund – um seinen Namen zu sagen oder laut zu schreien? Sie wusste es selbst nicht und hatte auch keine Zeit mehr, es herausfinden, da Jace sich genau in dem Augenblick blitzschnell bewegte: In dem einen Moment lag er noch neben ihr und im nächsten bereits auf ihr, eine Hand fest auf ihren Mund gepresst. Seine Beine umspannten ihre Hüften und sie konnte seinen schlanken, muskulösen Körper spüren, der sie auf die Matratze presste.
»Ich werde dir nicht wehtun«, sagte Jace. »Ich würde dich niemals verletzen. Aber ich will nicht, dass du schreist. Ich muss unbedingt mit dir reden.«
Clary funkelte ihn wütend an.
Zu ihrer Überraschung begann Jace zu lachen – sein vertrautes, leises Lachen. »Ich kenne dich einfach zu gut, Clary Fray. Sobald ich meine Hand von deinem Mund nehme, wirst du losschreien. Oder dein Training nutzen und mir die Handgelenke brechen. Komm schon, versprich mir, dass du nicht schreien wirst. Schwör es beim Erzengel.«
Dieses Mal rollte Clary mit den Augen.
»Okay, du hast recht«, räumte Jace ein. »Mit meiner Hand auf dem Mund kannst du schlecht schwören. Ich werd sie jetzt wegnehmen. Und falls du doch schreist…« Er neigte den Kopf leicht zur Seite und seine blassgoldenen Haare fielen ihm in die Augen. »Dann werde ich verschwinden«, sagte er und nahm die Hand weg.
Clary lag reglos da und holte keuchend Luft, während sie weiterhin den Druck von Jace’ Körper auf ihrem Leib spürte. Sie wusste, dass er schneller war als sie und dass er jede ihrer Attacken problemlos kontern würde. Doch momentan schien er die Situation als ein Spiel zu betrachten, als einen Spaß. Er beugte sich tiefer zu ihr herab und Clary merkte, dass ihr Trägertop hochgerutscht war und sie seine flache, harte Bauchmuskulatur auf ihrer nackten Haut spüren konnte. Blut schoss ihr ins Gesicht und sie errötete.
Aber trotz ihrer heißen Wangen hatte sie das Gefühl, als würden eisige Nadeln durch ihre Adern jagen. »Was tust du hier?«, stieß sie hervor.
Mit einem enttäuschten Ausdruck in den Augen richtete Jace sich wieder auf. »Das ist eigentlich nicht die Reaktion, die ich mir gewünscht habe. Ich hatte eher so was wie ein ›Halleluja‹ erwartet. Schließlich kehrt dein Freund nicht jeden Tag von den Toten zurück.«
»Ich wusste, dass du nicht tot bist«, erwiderte Clary mit noch immer leicht tauben Lippen. »Ich hab dich in der Bibliothek gesehen. Zusammen mit…«
»Oberst von Gatow?«
»Sebastian.«
Jace lachte leise in sich hinein. »Ich hab gewusst, dass du ebenfalls dort warst. Ich konnte es fühlen.«
Clary spürte, wie sich ihr ganzer Körper anspannte. »Du hast mich glauben lassen, du wärst verschwunden… die ganze Zeit«, entgegnete sie. »Ich hab gedacht, du… ich hab wirklich gedacht, dass du möglicherweise nicht mehr…« Sie verstummte, konnte es einfach nicht über die Lippen bringen. Nicht mehr lebst. »Das war die Hölle. Wenn ich dir so was angetan hätte…«
»Clary.« Erneut beugte Jace sich über sie.
Seine Hände ruhten warm auf ihren Handgelenken, sein Atem strich sanft über ihr Ohr. Clary konnte jeden einzelnen Zentimeter spüren, an denen sich ihre Körper berührten, nackte Haut an nackter Haut – und es fiel ihr furchtbar schwer, sich zu konzentrieren.