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»Ich konnte nicht anders. Die Sache war viel zu gefährlich. Wenn ich dich informiert hätte, hättest du dich entscheiden müssen: Entweder dem Rat mitzuteilen, dass ich noch lebe – und damit zuzulassen, dass man mich jagt –, oder das Ganze zu verschweigen, was dich in den Augen der Ratsmitglieder zu meiner Komplizin gemacht hätte. Und dann, nachdem du mich in der Bibliothek gesehen hattest, musste ich erst recht abwarten. Ich musste herausfinden, ob du mich noch immer liebst oder ob du zum Rat gehen und alles erzählen würdest. Aber das hast du nicht getan. Ich musste mich einfach vergewissern, dass ich dir mehr bedeute als das Gesetz. Und das stimmt doch, oder?«

»Ich weiß es nicht«, wisperte Clary. »Ich weiß es wirklich nicht. Wer bist du?«

»Ich bin noch immer ich – Jace«, erklärte er. »Und ich liebe dich noch immer.«

Heiße Tränen schossen Clary in die Augen. Sie blinzelte und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Langsam senkte Jace den Kopf und küsste sanft ihre Wangen und dann ihren Mund. Clary konnte ihre eigenen Tränen schmecken, die salzigen Tropfen auf seinen Lippen, die ihren Mund sanft und behutsam öffneten. Clary spürte, wie Jace’ vertrauter Geruch und Körper sie überwältigten, und sie presste sich für einen Sekundenbruchteil an ihn. Das blinde Bedürfnis ihres Körpers ließ sie sämtliche Zweifel vergessen; sie wollte ihn ganz nah bei sich haben, ihn nicht mehr gehen lassen – als plötzlich die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet wurde.

Jace löste sich von ihr und Clary stieß ihn weg und zerrte den Saum ihres Trägertops hinunter. Vollkommen ungerührt setzte Jace sich auf und grinste die Gestalt im Türrahmen an. »Also, echt«, meinte er leicht tadelnd. »Du hast wirklich das mieseste Timing, seit Napoleon auf die Idee kam, der tiefste Winter sei der richtige Zeitpunkt für eine Invasion Russlands.«

In der Tür stand Sebastian.

Aus der Nähe konnte Clary deutlich erkennen, dass er sich seit ihrer ersten Begegnung in Idris verändert hatte: Seine Haare waren papierweiß, seine Augen wie schwarze Tunnel, gesäumt von langen Wimpern, die an Spinnenbeine erinnerten. Er trug ein weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und Clary entdeckte eine rote Narbe, die sich wie ein gerilltes Armband um sein rechtes Handgelenk wand, während in seiner Handfläche eine ziemlich frische, wulstige Narbe leuchtete.

»Dir ist schon klar, dass du da gerade meine Schwester schändest«, bemerkte er in Jace’ Richtung, wobei eine gewisse Belustigung aus seiner Miene sprach.

»Tut mir leid«, erwiderte Jace, aber er klang nicht so. Dann ließ er sich geschmeidig auf die Bettdecke zurücksinken. »Wir konnten uns einfach nicht mehr bremsen.«

Clary schnappte nach Luft, was selbst in ihren eigenen Ohren überlaut klang. »Raus!«, knurrte sie in Sebastians Richtung.

Doch dieser lehnte sich lässig an den Türrahmen, woraufhin Clary verblüfft die Ähnlichkeit zwischen Sebastians und Jace’ Bewegungen registrierte. Die beiden sahen einander zwar nicht ähnlich, aber sie bewegten sich auf die gleiche Weise… als ob…

Als ob sie von ein und derselben Person ausgebildet worden waren.

»Na, na, na«, tadelte Sebastian, »spricht man so mit seinem großen Bruder?«

»Magnus hätte dich nicht zurückverwandeln sollen – dann würdest du noch heute wie ein Kleiderständer in Ragnor Fells Hütte herumstehen«, fauchte Clary.

»Ach, das weißt du noch? Ich fand ja, dass wir an diesem Tag unheimlich viel Spaß zusammen hatten«, entgegnete Sebastian spöttisch und Clary erinnerte sich mit einem mulmigen Gefühl im Magen daran, wie er sie zu den niedergebrannten Mauern von Jocelyns Elternhaus geführt hatte, wie er sie inmitten der Ruinen geküsst hatte, obwohl er die ganze Zeit wusste, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie tatsächlich zueinander standen – und wie er sich darüber gefreut hatte, dass sie selbst vollkommen ahnungslos gewesen war.

Clary warf Jace einen raschen Seitenblick zu. Er wusste ganz genau, dass Sebastian sie geküsst hatte. Sebastian hatte ihn damit aufgezogen, woraufhin Jace ihn beinahe getötet hatte. Doch nun wirkte er nicht wütend; stattdessen schien er amüsiert und bestenfalls leicht verärgert darüber, dass man Clary und ihn unterbrochen hatte.

»Das sollten wir unbedingt noch mal machen«, schlug Sebastian vor und betrachtete eingehend seine Fingernägel. »Ein wenig Zeit mit der Familie verbringen.«

»Es interessiert mich nicht, was du denkst. Du bist nicht mein Bruder«, schnaubte Clary. »Du bist ein Mörder.«

»Ich wüsste wirklich nicht, wieso das eine das andere ausschließen sollte. War bei unserem guten alten Dad ja auch nicht der Fall«, erwiderte Sebastian und ließ seinen Blick wieder zu Jace schweifen. »Normalerweise mische ich mich ja höchst ungern in das Liebesleben eines Freundes ein, aber ich hab echt keine Lust, ewig lange hier draußen im Flur rumzustehen. Zumal ich kein Licht einschalten kann. Das ist total langweilig.«

Jace richtete sich auf und zog sein hochgerutschtes T-Shirt zurecht. »Gib uns fünf Minuten.«

Sebastian seufzte übertrieben und schloss dann die Tür.

Wütend starrte Clary Jace an: »Was zum Teu…«

»Achte auf deine Worte, Fray!« Jace’ Augen funkelten belustigt. »Und entspann dich.«

Doch Clary zeigte aufgebracht mit dem Finger auf die Tür. »Du hast gehört, was er gesagt hat. Über den Tag, als er mich geküsst hat. Damals hat er genau gewusst, dass ich seine Schwester bin. Jace…«

Plötzlich flammte etwas in Jace’ Augen auf und trübte ihren Goldton – doch es schien, als wären Clarys Worte von einer Teflonschicht abgeperlt, ohne den geringsten Eindruck zu hinterlassen.

Betroffen zog Clary sich zurück. »Jace, hast du überhaupt mitbekommen, was ich gesagt habe? Hörst du mir eigentlich zu?«

»Ich verstehe ja, dass du dich unwohl fühlst, während dein Bruder draußen im Flur wartet. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, dich zu küssen.« Jace grinste auf eine Weise, die Clary zu jedem anderen Zeitpunkt hinreißend gefunden hätte. »Es schien mir nur in dem Moment eine gute Idee.«

Clary stieg aus dem Bett und starrte auf Jace hinab, während sie gleichzeitig nach ihrem Morgenmantel griff, der am Bettpfosten hing, und sich darin einhüllte.

Jace beobachtete sie, unternahm aber nichts, um sie aufzuhalten, obwohl seine Augen in der Dunkelheit schimmerten.

»Ich… ich kapier das nicht«, sagte Clary. »Zuerst verschwindest du spurlos und jetzt kommst du zurück mit… mit ihm und tust so, als ob ich nicht den geringsten Grund hätte auszuflippen…«

»Das hab ich dir doch schon erklärt«, erwiderte Jace. »Ich musste erst sichergehen, dass du mich noch liebst. Und ich wollte nicht, dass du meinen Aufenthaltsort erfährst, während der Rat dich noch verhört. Ich dachte, das wäre einfach zu schwer für dich…«

»Schwer?«, fauchte Clary atemlos vor Wut. »Prüfungen sind schwer. Hindernisrennen sind schwer. Aber dass du einfach verschwunden bist… das hat mich fast umgebracht, Jace. Und was glaubst du eigentlich, was du Alec damit angetan hast? Und Isabelle? Oder Maryse? Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie die vergangenen Wochen für sie gewesen sind? Kannst du dir das vorstellen? Nichts zu wissen… ununterbrochen zu suchen…«

Erneut huschte dieser eigenartige Ausdruck über Jace’ Gesicht, als würde er sie hören, aber nicht wirklich verstehen. »Ach ja, richtig, das wollte ich dich auch noch fragen.« Er lächelte wie ein Engel. »Suchen alle nach mir?«

»Ob alle nach dir suchen…« Clary schüttelte den Kopf und zog den Morgenmantel enger um sich. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, sich vor ihm abzuschirmen – vor ihm und dieser Vertrautheit und Schönheit und diesem umwerfenden, raubtierartigen Lächeln, aus dem sprach, dass er bereit war, alles mit ihr zu tun, ganz gleich, wer draußen im Flur wartete.