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»Aber wohin denn?«, fragte Clary verwirrt. »Ich dachte, wir bleiben hier… bei Luke. Ich will ihn nicht allein lassen.«

»Das will ich auch nicht«, erwiderte Jocelyn fest. Und Clary musste an die junge Frau denken, die Idris den Rücken gekehrt und alles zurückgelassen hatte, was ihr lieb und vertraut war, um ganz auf sich allein gestellt ein neues Leben zu beginnen. »Aber wir können nicht zulassen, dass Jace und Jonathan dich hier aufspüren. Das würde das Rudel in Gefahr bringen und Luke erst recht. Und das Hauptquartier ist der erste Ort, an dem Jace nach dir suchen wird.«

»Und wohin…?«, setzte Clary an, unterbrach sich aber, da ihr die Antwort dämmerte. An wen hatten sie sich jedes Mal gewandt, wenn sie in den vergangenen Wochen Hilfe gebraucht hatten?

Inzwischen war der bröckelnde Gehweg der Greenpoint Avenue wie mit einer Schicht Puderzucker bestäubt. Vor ihrem Aufbruch hatte Jocelyn einen langen Mantel übergestreift, doch darunter trug sie noch immer die Sachen, die mit Lukes Blut getränkt waren. Sie hatte die Lippen zusammengekniffen und hielt den Blick fest auf die Straße geheftet. Clary fragte sich, ob ihre Mutter wohl ähnlich ausgesehen hatte, als sie Idris verließ: ihre Stiefel mit grauer Asche überzogen, der Engelskelch unter ihrem Mantel versteckt.

Clary schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu ordnen. Offenbar ging ihre Fantasie mit ihr durch – sie sah Dinge, die sie gar nicht wissen konnte. Aber vielleicht versuchte ihr Verstand auch nur, die schrecklichen Bilder zu verdrängen, die sie kurz zuvor tatsächlich gesehen hatte.

Plötzlich kam ihr Sebastians Anblick wieder in den Sinn, wie er Luke den Dolch in die Brust gerammt hatte, und sie hörte erneut Jace’ vertraute Stimme, als er von »Kollateralschäden« sprach.

Denn wie bei vielen verlorenen Kostbarkeiten gilt auch in diesem Falle: Wenn ihr ihn wiederfindet, könnte euer Freund möglicherweise nicht mehr so sein, wie ihr ihn in Erinnerung habt.

Jocelyn zitterte und schlug ihre Kapuze hoch, um ihre Haare zu bedecken. Weiße Schneeflocken hatten sich bereits in ihre leuchtend roten Locken gemischt. Sie blieb stumm, während sie durch die menschenleere Straße eilten, die von polnischen und russischen Restaurants, Friseurläden und Schönheitssalons gesäumt war.

Plötzlich blitzte vor Clarys innerem Auge ein Bild auf – dieses Mal eine echte Erinnerung, kein Werk ihrer Fantasie: Ihre Mutter scheuchte sie mitten in der Nacht über eine dunkle Straße, an deren Rändern sich schmutzige Schneehaufen auftürmten. Dann ein niedriger grauer und bleierner Himmel

Sie hatte dieses Bild schon einmal gesehen… als die Brüder der Stille zum ersten Mal in ihrem Verstand herumgewühlt hatten. Jetzt begriff sie auch, worum es dabei ging: eine Erinnerung an die Zeit, als ihre Mutter sie regelmäßig zu Magnus gebracht hatte, um ihr Gedächtnis manipulieren zu lassen. Auch damals musste es tiefer Winter gewesen sein, aber Clary erkannte die Greenpoint Avenue aus ihrer Erinnerung wieder.

Kurz darauf erhob sich vor ihnen das Lagergebäude aus rotem Backstein, in dem Magnus wohnte. Jocelyn drückte die Glastür auf und gemeinsam drängten sie sich in den übel riechenden Eingang, wobei Clary durch den Mund zu atmen versuchte, während ihre Mutter ein, zwei, drei Mal auf Magnus’ Klingel drückte. Schließlich sprang die Tür auf und sie eilten die wacklige Treppe hinauf.

Die Wohnungstür stand weit offen und Magnus lehnte bereits wartend am Rahmen. Er trug einen kanariengelben Pyjama und grüne Pantoffeln mit Alien-Gesichtern, inklusive wippender insektenartiger Fühler. Seine stachligen schwarzen Haare waren zerzaust und seine goldgrünen Augen sahen müde aus. »Sankt Magnus’ Heim für bedürftige Schattenjäger in Not heißt euch willkommen«, sagte er zur Begrüßung mit tiefer Stimme und breitete die Arme aus. »Die Gästezimmer sind dort drüben. Schuhe abputzen nicht vergessen!« Dann trat er einen Schritt zurück, ließ Clary und Jocelyn ein und drückte die Wohnungstür hinter ihnen fest ins Schloss. Das Loft war dieses Mal in einer Art viktorianischem Dekor gehalten: Sofas mit hohen Rückenlehnen und große, vergoldete Spiegel an allen Wänden, während sich blütenförmige Lichterketten um die Metallsäulen wanden.

Vor dem Hauptraum ging ein kleiner Flur ab, der zu drei Gästezimmern führte. Clary wählte willkürlich eines auf der rechten Seite. Der Raum war orangefarben gestrichen, genau wie ihr ehemaliges Zimmer in Park Slope, und verfügte über ein Schlafsofa und ein kleines Fenster, von dem man die dunklen Scheiben eines geschlossenen Restaurants sehen konnte. Miau Tse-tung lag zusammengerollt auf der Bettdecke, die Nase unter dem Schwanz vergraben. Clary setzte sich neben ihn, kraulte ihm die Ohren und spürte das wohlige Schnurren, das durch seinen kleinen, pelzigen Körper vibrierte. Während sie ihn streichelte, fiel ihr Blick auf den Ärmel ihres hastig übergestreiften Sweatshirts: Er war dunkel verfärbt und blutverkrustet. Lukes Blut.

Clary stand auf und riss sich wütend das Sweatshirt vom Leib. Dann fischte sie eine saubere Jeans und ein schwarzes Thermo-Shirt mit V-Ausschnitt aus ihrem Rucksack und zog sich schnell an. Schließlich warf sie einen kurzen Blick auf ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe, das ihr blasses Gesicht zeigte, ihre schneefeuchten, schlaff herabhängenden Locken und ihre Sommersprossen, die sich wie Farbkleckse von ihrer bleichen Haut abhoben. Aber es spielte jetzt keine Rolle, wie sie aussah: Ihre Gedanken wanderten zu Jace und wie er sie geküsst hatte – eine Erinnerung, die bereits Tage zurückzuliegen schien – und ihr Magen schmerzte, als hätte sie unzählige winzige Messer verschluckt.

Einen langen Moment hielt sie sich am Bettsofa fest, bis der Schmerz schließlich verebbte. Dann holte sie tief Luft und marschierte durch den Flur zum Wohnzimmer.

Ihre Mutter saß auf einem der Stühle mit den vergoldeten Lehnen; ihre langen Künstlerfinger umklammerten einen Becher mit heißer Zitrone. Magnus lümmelte auf einem knallrosa Sofa, die Füße mit den grünen Pantoffeln auf dem Beistelltisch abgelegt. »Die Rudelmitglieder haben Luke stabilisieren können«, erzählte Jocelyn gerade mit erschöpfter Stimme. »Allerdings wissen sie nicht, für wie lange. Zuerst dachten sie, die Klinge sei mit Silberpulver präpariert gewesen, doch dann stellte sich heraus, dass es sich um eine andere Substanz handeln muss. Die Spitze des Dolchs…« Jocelyn schaute hoch, sah Clary und verstummte.

»Ist schon okay, Mom. Ich bin alt genug, um zu erfahren, was mit Luke los ist.«

»Na ja, man weiß es eben nicht genau«, sagte Jocelyn leise. »Die Spitze des Dolchs, den Sebastian benutzt hat, ist gegen eine von Lukes Rippen geprallt und abgebrochen und hat sich dabei in den Knochen gebohrt. Aber sie kann nicht entfernt werden. Denn sie… sie bewegt sich.«

»Sie bewegt sich?«, wiederholte Magnus verwirrt.

»Als man versucht hat, die Klingenspitze herauszuholen, hat sie sich tiefer in den Knochen gebohrt und ihn fast gespalten«, erklärte Jocelyn. »Luke ist ein Werwolf – seine Verletzungen verheilen schnell, aber die Spitze sitzt tief in seinem Körper und zerfetzt seine inneren Organe, wodurch sich die Wunde nicht schließen kann.«

»Dämonenmetall«, sagte Magnus. »Kein Silber.«

Jocelyn beugte sich vor. »Denkst du, du kannst ihm helfen? Ich werde zahlen, was immer du verlangst…«

Langsam stand Magnus auf. Seine Pantoffeln mit den Alien-Gesichtern und seine schlafzerzauste Frisur wirkten fehl am Platz, dem Ernst der Lage nicht angemessen. »Ich weiß es nicht.«

»Aber du hast doch auch Alec geheilt«, warf Clary ein. »Als der Dämonenfürst ihn verwundet hatte…«

Magnus ging unruhig auf und ab. »Damals wusste ich, was Alec fehlte, doch dieses Mal habe ich keine Ahnung, um welche Sorte von Dämonenmetall es sich handelt. Natürlich könnte ich herumexperimentieren, verschiedene Heilformeln ausprobieren, aber das ist nicht der schnellste Weg, Luke zu helfen.«