»Er wollte, dass ich mit ihm mitkomme. Dass ich mich ihm und Sebastian anschließe. Ich schätze, er möchte ihr kleines, unheiliges Duo in ein kleines, unheiliges Trio verwandeln«, erwiderte Clary achselzuckend. »Vielleicht fühlt er sich ja einsam. Sebastian ist bestimmt nicht die angenehmste Gesellschaft.«
»Das wissen wir nicht«, widersprach Magnus. »Beim Scrabble könnte er beispielsweise ganz fantastisch sein.«
»Sebastian ist ein Mörder und ein Psychopath«, sagte Alec tonlos. »Und Jace weiß das auch.«
»Aber Jace ist im Moment nicht er selbst…«, setzte Magnus an und verstummte dann, als das Telefon klingelte. »Ich geh schon. Wer weiß, wer noch alles auf der Flucht vor dem Rat ist und einen Platz zum Übernachten braucht? Es ist ja nicht so, als ob es in dieser Stadt irgendwelche Hotels gäbe«, murmelte er und trottete in die Küche.
Alec warf sich auf das Sofa und schaute seinem Freund nach. »Magnus arbeitet zu viel«, sagte er besorgt. »Er hat sich die ganzen letzten Nächte um die Ohren geschlagen, um diese Runen zu entziffern.«
»Hat der Rat ihn damit beauftragt?«, fragte Jocelyn.
»Nein«, erwiderte Alec gedehnt. »Er tut es für mich. Weil er weiß, wie viel Jace mir bedeutet.« Alec zog seinen Ärmel hoch und zeigte Jocelyn die Parabatai-Rune auf der Innenseite seines Unterarms.
»Du hast gewusst, dass Jace nicht tot ist«, sagte Clary und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Weil ihr beide Parabatai seid, weil zwischen euch eine besondere Verbindung besteht. Aber du hast auch gesagt, du könntest spüren, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmt.«
»Weil Jace besessen ist«, erklärte Jocelyn. »Das hat ihn verändert. Valentin hat genau das Gleiche berichtet, als Luke sich in einen Schattenweltler verwandelt hat… er meinte, dass er es spüren konnte… dieses Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte.«
Doch Alec schüttelte den Kopf. »Als Jace von Lilith besessen war, hab ich überhaupt nichts gespürt«, gab er zu bedenken. »Nur jetzt kann ich etwas fühlen… irgendetwas ist nicht richtig… irgendwie falsch.« Betreten schaute er auf seine Schuhe. »Man kann spüren, wenn der eigene Parabatai stirbt – es ist so, als wäre man mit einer Art Kordel an etwas gebunden und diese würde reißen und man würde ins Bodenlose fallen.« Alec schaute auf und blickte Clary direkt in die Augen. »In Idris hab ich das einmal gespürt, während der Schlacht. Aber der Moment war so kurz… und als ich nach Alicante zurückkehrte, war Jace quicklebendig. Daraufhin bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass ich mir das alles nur eingebildet hatte.«
Clary musste an Jace und den blutgetränkten Sand am Ufer des Lyn-Sees denken. Nein, das hast du dir nicht eingebildet.
»Aber das, was ich jetzt spüre, fühlt sich anders an«, fuhr Alec fort. »Es kommt mir so vor, als wäre Jace zwar nicht auf dieser Welt, aber auch nicht tot. Und auch nicht eingesperrt… nur einfach nicht hier.«
»Das trifft es genau«, bestätigte Clary. »Bei beiden Malen, als ich Jace und Sebastian gesehen habe, schien es, als würden sie sich einfach in Luft auflösen. Kein Portal oder so was. Einen Moment lang waren sie hier und im nächsten schon verschwunden.«
»Wenn ihr von hier und dort sprecht und von dieser Welt und jener«, sagte Magnus, der gähnend in den Wohnraum zurückkehrte, »dann redet ihr im Grunde über verschiedene Dimensionen. Aber es gibt nur wenige Hexenmeister, die die Kunst der Dimensionsmagie beherrschen. Mein alter Freund Ragnor gehörte dazu. Die Dimensionen liegen nicht einfach nebeneinander – sie sind vielmehr zusammengefaltet, wie Papier. Und dort, wo sie sich überschneiden, können Dimensionsfalten entstehen, die verhindern, dass jemand mithilfe von Magie aufgespürt werden kann. Denn man ist ja nicht hier, sondern dort.«
»Vielleicht ist das ja der Grund, warum wir Jace nicht orten können? Und wieso Alec ihn nicht fühlen kann?«, mutmaßte Clary.
»Durchaus denkbar.« Magnus klang fast beeindruckt. »Das würde aber bedeuten, dass es wirklich keine Möglichkeit gibt, die beiden gegen ihren Willen zu finden. Und auch keine Möglichkeit, uns eine Nachricht zukommen zu lassen, falls es dir gelingen sollte, sie trotzdem aufzuspüren. Bei dem Ganzen handelt es sich um eine hochkomplexe, aufwändige Form der Magie. Sebastian muss in der Tat über einige Beziehungen verfügen…« In dem Moment schrillte die Türklingel, worauf alle Anwesenden erschrocken zusammenfuhren. Nur Magnus rollte mit den Augen und meinte: »Jetzt beruhigt euch mal wieder.« Dann verschwand er im Flur und kehrte kurz darauf mit einem Mann in einer langen, pergamentfarbenen Robe mit blutroten Runen an Saum und Ärmeln ins Wohnzimmer zurück. Obwohl der Mann die Kapuze hochgeschlagen hatte und sein Gesicht im Schatten lag, schien er trocken zu sein, als wäre er mit keiner Schneeflocke in Berührung gekommen. Als er die Kapuze zurückschlug, war Clary nicht im Geringsten überrascht, darunter das Gesicht von Bruder Zachariah zu sehen.
Ruckartig stellte Jocelyn ihre Tasse auf dem Beistelltisch ab, den Blick fest auf den Bruder der Stille geheftet, von dem Clary nur die dunklen Haare und die hohen, mit Runennarben übersäten Wangenknochen erkennen konnte, nicht aber die Augen. »Du…«, setzte Jocelyn an, verstummte für einen Moment und fügte dann hinzu: »Aber Magnus hat mir gesagt, dass die Brüder der Stille niemals…«
Unerwartete Ereignisse erfordern unerwartete Maßnahmen. Bruder Zachariahs Stimme schwebte durch den Raum und berührte Clarys Verstand; und der Ausdruck auf den Gesichtern der anderen verriet ihr, dass diese ihn ebenfalls hören konnten. Ich werde weder den Rat noch die Kongregation darüber in Kenntnis setzen, was sich hier und jetzt ereignet. Denn falls sich mir die Gelegenheit bietet, den letzten Erben der Familie Herondale zu retten, stufe ich dies als wesentlich wichtiger ein als meine dem Rat geschuldete Treue.
»Na, das wäre dann ja geklärt«, bemerkte Magnus. Er und der Stille Bruder bildeten ein seltsames Paar: der eine bleich und in heller Robe und der andere in einem knallgelben Pyjama. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten bezüglich Liliths Runen?«, fragte der Hexenmeister.
Ich habe diese Runen sorgfältig studiert und mir sämtliche Zeugenaussagen im Rat angehört, erklärte Bruder Zachariah. Und ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei Liliths Zeremonie um ein Doppelritual gehandelt hat. Zunächst nutzte sie den Biss des Tageslichtlers, um Jonathan Morgensterns Bewusstsein wiederzuerwecken. Sein Körper war zwar noch geschwächt, aber sein Verstand und sein Wille waren lebendig. Ich glaube, als Jace Herondale mit ihm allein auf der Dachterrasse zurückblieb, nutzte Jonathan die Macht von Liliths Runen und zwang Jace, den verwunschenen Kreis zu betreten, der ihn umgab. Ab diesem Moment wird Jace’ Wille seinem unterworfen gewesen sein. Ich denke, er wird sich Jace’ Blut bedient haben, um die erforderliche Kraft zu gewinnen, die er benötigte, um sich zu erheben und von der Dachterrasse zu fliehen. Und Jace hat er mit sich genommen.
»Und das hat irgendwie eine Verbindung zwischen den beiden erschaffen?«, hakte Clary nach. »Denn als meine Mutter Sebastian mit einem Messer verletzt hat, begann Jace zu bluten.«
Ja. Lilith hat eine Art Verbrüderungsritual vollzogen, ähnlich dem unserer Parabatai-Zeremonie, allerdings deutlich mächtiger und gefährlicher. Die beiden sind nun untrennbar miteinander verbunden. Sollte einer der beiden sterben, wird der andere ihm unweigerlich folgen. Keine Waffe dieser Welt kann den einen verletzen, ohne den anderen ebenfalls zu verwunden.
»Du hast gesagt, die beiden sind untrennbar miteinander verbunden«, setzte Alec an und beugte sich vor. »Bedeutet das… ich meine, Jace hasst Sebastian. Er hat unseren kleinen Bruder ermordet.«