»Clary«, sagte Alec in dem Augenblick, als sie ihr Telefon aufklappte. »Warte.«
Erstaunt schaute Clary ihn an: Sein Gesichtsausdruck war noch immer so ernst wie der eines Leichenbestatters. Plötzlich wurde sie von einer bösen Vorahnung gepackt und legte ihr Handy auf das Bett. »Alec – was ist los?«, fragte sie leise.
»Nicht deinetwegen hat der Rat so lange getagt«, setzte Alec an. »Es gab noch etwas anderes zu besprechen.«
Das eisige Gefühl kehrte schlagartig zurück. Clary zitterte. »Jace?«
»Nicht direkt.« Alec beugte sich vor und umfasste die Stuhllehne mit beiden Händen. »In den frühen Morgenstunden ist ein Bericht aus dem Moskauer Institut eingetroffen. Die Schutzschilde über der Wrangelinsel sind gestern zerstört worden. Inzwischen hat man zwar einen Reparaturtrupp losgeschickt, aber die Tatsache, dass so wichtige Schutzschilde so lange außer Wirkung gesetzt waren… na ja, das hat jetzt für den Rat oberste Priorität.«
Die Schutzschilde waren von der ersten Schattenjägergeneration errichtet worden. Wie Clary aus dem Codex wusste, umgaben sie die Erde wie eine Art magisches Abwehrsystem. Zwar gelang es manchen Dämonen, diese Schranken zu durchbrechen, aber nur mit erheblichem Aufwand, sodass die große Mehrheit dieser Höllenwesen ferngehalten und die Welt dadurch vor einer gewaltigen Dämoneninvasion bewahrt wurde. Clary erinnerte sich an Jace’ Worte, als er ihr vor einer gefühlten Ewigkeit erklärt hatte: Früher gab es nur kleine Invasionen von Dämonen, mit denen man leicht fertig werden konnte. Aber allein seit dem Jahr meiner Geburt sind mehr Dämonen durch die Schranken gedrungen als in allen Jahren davor zusammengenommen.
»Okay, das ist übel«, räumte Clary ein. »Aber ich wüsste nicht, was das mit Jace zu tun hat…«
»Der Rat setzt seine eigenen Prioritäten«, unterbrach Alec sie. »Während der vergangenen zwei Wochen hatte die Suche nach Jace und Sebastian absoluten Vorrang. Aber inzwischen hat man jeden Winkel der Schattenwelt durchkämmt, ohne auch nur eine Spur von ihnen zu finden. Keine von Magnus’ Ortungsbemühungen hat etwas ergeben. Elodie, die Frau, bei der der echte Sebastian Verlac aufgewachsen ist, hat bestätigt, dass niemand versucht hat, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Das war ohnehin ziemlich weit hergeholt. Auch von den bekannten Mitgliedern aus Valentins ehemaligem Kreis wurden keine ungewöhnlichen Aktivitäten berichtet. Und die Stillen Brüder haben noch nicht herausfinden können, was das Ritual, das Lilith vollzogen hat, genau bewirken sollte und ob es überhaupt erfolgreich war. Man nimmt allgemein an, dass Sebastian – den die Ratsmitglieder natürlich bei seinem richtigen Namen, Jonathan, nennen – Jace entführt hat, aber das ist uns ja nicht neu.«
»Und was jetzt?«, fragte Isabelle. »Bedeutet das, dass die Suchtrupps verstärkt werden? Mehr Patrouillen durchgeführt werden?«
Alec schüttelte den Kopf. »Die Ratsmitglieder haben nicht davon gesprochen, die Suche zu intensivieren«, sagte er leise. »Im Gegenteiclass="underline" Sie stufen die Priorität herunter. Inzwischen sind zwei Wochen verstrichen, ohne Ergebnis. Die Spezialeinheiten, die extra aus Idris angereist sind, kehren nach Hause zurück. Das Problem mit den Schutzschilden hat jetzt Vorrang. Ganz zu schweigen davon, dass der Rat sich derzeit in schwierigen Verhandlungen befindet, die Gesetze für die Neuzusammensetzung der Kongregation überarbeiten, neben dem neuen Konsul auch einen neuen Inquisitor ernennen und die ungleiche Behandlung von Schattenweltlern beenden muss… Von diesen Aufgaben will man sich nicht komplett ablenken lassen.«
Clary starrte Alec an. »Sie wollen nicht, dass Jace’ Verschwinden ihren Zeitplan zur Überarbeitung irgendwelcher dämlicher alter Gesetze durcheinanderwirft? Das heißt, sie geben auf?«
»Nein, so kann man das nicht sagen…«
»Alec«, stieß Isabelle scharf hervor.
Ihr Bruder holte tief Luft und schlug resigniert die Hände vors Gesicht. Er hatte lange Finger, die voller Narben waren, genau wie Jace, dachte Clary. Das augenförmige Runenmal aller Nephilim leuchtete auf dem Rücken seiner rechten Hand. »Clary, für dich – für uns – ging es bei dieser Suche immer um Jace. Der Rat interessiert sich natürlich auch für Jace, aber vorrangig für Sebastian. Denn er stellt die Gefahr dar. Er hat die Schutzschilde von Alicante zerstört. Er ist ein Massenmörder. Jace ist…«
»Nur ein weiterer Schattenjäger«, fiel ihm Isabelle ins Wort. »Wir sterben und verschwinden ständig.«
»Selbstverständlich ist man ihm für seine heldenhaften Taten in der Großen Schlacht dankbar«, räumte Alec ein. »Aber letztendlich hat der Rat keinen Zweifel gelassen: Die Suche wird zwar nicht eingestellt, aber auch nicht mehr so intensiv vorangetrieben. Das Ganze ist eine Geduldsprobe. Man wartet darauf, dass Sebastian den nächsten Schritt macht. In der Zwischenzeit steht die Suche nach Jace nur noch an dritter Stelle auf der Prioritätenliste. Wenn überhaupt. Man erwartet von uns, dass wir unser normales Leben wieder aufnehmen.«
Normales Leben? Clary konnte es einfach nicht glauben. Ein normales Leben ohne Jace?
»Genau dasselbe wurde uns auch nach Max’ Tod geraten«, bemerkte Izzy mit erstickter Stimme, während ihre schwarzen Augen vor Zorn brannten. »Man hat uns erzählt, dass wir den Kummer schneller hinter uns lassen könnten, wenn wir unser normales Leben wieder aufnehmen würden.«
»Das soll angeblich helfen«, murmelte Alec hinter seinen Fingern.
»Dann erzähl das mal Dad. Ist er überhaupt aus Idris angereist, um an der Sitzung teilzunehmen?«
Alec schüttelte den Kopf und nahm die Hände herunter. »Nein. Falls es euch irgendwie ein Trost ist… während der Sitzung haben sich eine Menge Leute für die Fortsetzung der Suche starkgemacht: Magnus, Luke natürlich, Konsulin Penhallow, sogar Bruder Zachariah. Aber letztendlich konnten sie nichts ausrichten.«
Ruhig musterte Clary den jungen Schattenjäger. »Alec, spürst du denn gar nichts?«, fragte sie.
Alecs Augen verdunkelten sich und für einen Moment erinnerte Clary sich an den Jungen, der sie bei ihrer Ankunft im Institut gehasst hatte – der Junge mit den abgekauten Nägeln und dem löchrigen Pullover und dem superempfindlichen Ego. »Ich weiß, dass dich die Sache ziemlich mitnimmt, Clary«, erwiderte er scharf, »aber wenn du damit andeuten willst, dass Izzy und ich uns weniger um Jace sorgen als du…«
»Nein, natürlich nicht«, versicherte Clary hastig. »Ich meinte eigentlich eure Parabatai-Verbindung. Im Codex hab ich vor Kurzem von dieser Zeremonie gelesen und weiß, dass die beiden Parabatai dadurch auf besondere Weise miteinander verbunden sind. Du kannst bestimmte Dinge von Jace wahrnehmen. Dinge, die euch im Kampf helfen. Daher dachte ich… na ja, kannst du vielleicht fühlen, ob Jace noch lebt?«
»Clary.« Isabelle klang besorgt. »Ich dachte, du wolltest nicht…«
»Er lebt«, sagte Alec vorsichtig. »Glaubst du, ich wäre noch derart handlungsfähig, wenn Jace nicht mehr leben würde? Irgendetwas stimmt nicht mit ihm, etwas läuft total schief. Das kann ich spüren. Aber er atmet zumindest noch.«
»Könnte es sich bei dem, was du als ›schieflaufen‹ bezeichnest, vielleicht darum handeln, dass er irgendwo gefangen gehalten wird?«, fragte Clary bedrückt.
Nachdenklich schaute Alec zum Fenster, gegen dessen Scheibe graue Regenschwaden klatschten. »Möglicherweise. Ich kann es nicht erklären. Etwas Vergleichbares hab ich noch nie gefühlt.«