Der Mond war bereits aufgegangen, als Will und Jem Highgate erreichten — einen Stadtteil auf einem Hügel im Norden Londons mit einem weiten Ausblick über das still daliegende Häusermeer der Metropole. Das fahle Mondlicht verwandelte den dichten Nebel und den rußigen Kaminqualm, der schwer über der Stadt hing, in eine silberne Wolke. Eine Traumstadt, dachte Will, schwebend in den Sphären. Eine Zeile aus einem Gedicht drängte sich an den Rand seines Bewusstseins ... irgendetwas über das Furcht einflößende Wunder London ... doch die Anspannung des unmittelbar bevorstehenden Kampfes verhinderte, dass er sich an den genauen Wortlaut erinnern konnte. Das georgianische Herrenhaus, dessen Adresse Mortmain Will und Jem gegeben hatte, lag in einer weitläufigen Parklandschaft, die von einer hohen Ziegelmauer umgeben war. Von der Straße aus konnte man lediglich die Spitze des dunklen Mansardendachs erkennen. Ein kalter Schauer jagte Will über den Rücken, als sie sich dem Anwesen näherten, doch das verwunderte ihn nicht weiter. Sie befanden sich in der Nähe eines Waldgebietes namens »Gravel Pit Woods« am Rande der Stadt, wo man zwei Jahrhunderte zuvor, während der verheerenden Pestepidemie, Tausende von Leichnamen einfach auf riesige Haufen geworfen hatte. Bis heute geisterten die zornigen Schatten der Toten, denen ein anständiges Begräbnis verwehrt geblieben war, durch das Viertel und Will hatte aufgrund ihrer Umtriebe mehr als einmal nach Highgate reiten und für Ruhe sorgen müssen.
Ein schwarzes Gittertor in der Gartenmauer verhinderte das unbefugte Betreten des Anwesens, doch Jems Entriegelungsrune machte kurzen Prozess mit dem Schloss. Die beiden Schattenjäger stellten die Kutsche in der Nähe des Tors ab und schlichen die gewundene Auffahrt hinauf, die zum Haupteingang des Herrenhauses führte. Der Weg war von Unkraut überwuchert und in den angrenzenden Gartenanlagen erkannte man die Umrisse zerfallener Nebengebäude und die schwarzen Stümpfe abgestorbener Bäume. Mit fiebrig glänzenden Augen wandte Jem sich an Will. »Wollen wir?«, raunte er.
Sofort zog Will eine Seraphklinge aus dem Gürtel.
»Israfel« wisperte er und die Waffe flammte auf wie das Zucken eines Blitzes. Alle Engelsschwerter leuchteten derartig hell, dass Will jedes Mal erwartete, die Klinge würde eine entsprechende Hitzemenge abstrahlen, doch wie üblich fühlte sie sich auch jetzt eiskalt an. Im nächsten Moment erinnerte er sich daran, wie Tessa ihm erklärt hatte, die Hölle sei kalt, und konnte nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. Damals waren sie um ihr Leben gelaufen und Tessa hätte eigentlich Todesangst haben müssen, aber sie hatte ruhig dagestanden und ihm Dantes Inferno erläutert.
»Ganz meiner Meinung — es wird Zeit«, bestätigte er Jems Frage leise.
Geräuschlos stiegen sie die Stufen hinauf und untersuchten die Tür, die sich im Gegensatz zu Wills Erwartung als nicht verschlossen entpuppte und mit einem vernehmlichen Quietschen aufschwang. Vorsichtig schoben sich die beiden Schattenjäger ins Haus, wobei das Licht ihrer Seraphklingen ihnen den Weg wies.
Wachsam schauten Will und Jem sich in der imposanten Eingangshalle um: Die hohen Bogenfenster hinter ihnen mussten einst prachtvoll gewesen sein, doch nun wechselten sich intakte Scheiben mit zerborstenen ab und durch die spinnwebartigen Risse im Glas waren die verwilderten und überwucherten Gartenanlagen zu erkennen. Der Marmorboden unter ihren Füßen knirschte bei jedem Schritt und in den zahlreichen Spalten und Rissen wuchsen Unkraut und Gras, genau wie in der Auffahrt. Unmittelbar vor Will und Jem führte eine breite, geschwungene Treppe nach oben, in die Schatten des ersten Geschosses.
»Irgendetwas an Mortmains Angaben kann nicht stimmen«, flüsterte Jem. »Es scheint, als wäre seit Jahrzehnten niemand mehr hier gewesen.«
Doch kaum hatte er seinen Satz beendet, ertönte auch schon ein Klang — ein Klang, der dafür sorgte, dass sich Wills Nackenhaare aufrichteten und die Runenmale auf seinen Schultern schmerzhaft brannten. Eine Art Gesang schwebte durch die kalte Nachtluft, aber kein liebliches Lied, sondern die Schwingungen einer Stimme, die derart hohe Töne erreichte, wie kein menschliches Organ sie zu produzieren vermochte. Über den Köpfen der beiden jungen Männer begannen die Glasanhänger des Kristallleuchters, wie vibrierende Weingläser zu klirren und sirren.
»Offenbar ist doch irgendjemand hier«, erwiderte Will leise. Und dann drehten sich die beiden blitzschnell und ohne jedes weitere Wort so um, dass sie Rücken an Rücken standen. Jem schaute in Richtung der offenen Eingangstür, während Will das breite, geschwungene Treppenhaus ins Auge fasste.
Irgendetwas erschien am oberen Treppenabsatz. Zunächst sah Will nur ein flüchtiges Muster aus dunklen und helleren Flächen, ein Schatten, der sich gleitend bewegte. Als die Erscheinung die Stufen hinunterschwebte, schwoll der Gesang an und Wills Nackenhaare prickelten noch heftiger. Schweißperlen bildeten sich an seinen Schläfen und liefen ihm den Rücken hinunter, trotz der eisigen Luft.
Die schemenhafte Gestalt legte fast die Hälfte der Stufen zurück, ehe er sie erkannte - Mrs Dark. Ihr hochgewachsener, hagerer Körper steckte in einer Art Nonnentracht, ein formloses dunkles Gewand, das von ihrem Hals bis zu den Füßen herabfiel. In einer ihrer Klauen baumelte eine nicht entzündete Laterne. Sie war allein -oder auch nicht, wie Will in dem Moment erfasste, als sie auf dem mittleren Treppenabsatz stehen blieb. Denn bei dem Ding, das sie in der Hand hielt, handelte es sich keineswegs um eine Laterne, sondern um den abgetrennten Kopf ihrer Schwester.
»Beim Erzengel«, wisperte Will. »Sieh dir das an, Jem.«
Sein Freund schaute sich rasch um und stieß einen unterdrückten Fluch aus.
Mrs Blacks Schädel baumelte an einem grauen Haarzopf, den Mrs Dark umklammerte, als sei er ein Objekt von unschätzbarem Wert. Die weit aufgerissenen Augen schimmerten durchgehend weiß, wie hart gekochte Eier. Auch der Mund stand weit offen und ein dünnes Rinnsal getrockneten schwarzen Blutes war bis zu ihrem Kinn hinabgelaufen.
Im nächsten Moment unterbrach Mrs Dark ihren Gesang und kicherte wie ein Schulmädchen. »Böse, böse Jungs«, gurrte sie. »Einfach so in mein Haus einzubrechen. Ihr ungezogenen kleinen Schattenjäger.«
»Hieß es nicht, die andere Schwester sei ebenfalls am Leben?«, murmelte Jem seinem Freund leise zu.
»Vielleicht hat diese hier ja ihre Schwester wiederbelebt und ihr dann erneut den Kopf abgeschlagen?«, raunte Will zurück. »Das erscheint mir zwar wie viel Arbeit für wenig Brot, aber ...«
»Mörder«, fauchte Mrs Dark und fixierte Will. »Es reicht dir wohl nicht, dass du meine Schwester schon einmal umgebracht hast, wie? Nein, du musst zurückkehren und mich daran hindern, ihr ein zweites Leben zu schenken. Weißt du eigentlich ... hast du auch nur die geringste Ahnung ... wie es ist, ganz allein zu sein?«
»Besser als Sie sich jemals vorstellen können«, konterte Will knapp und sah, wie Jem ihm einen verwunderten Seitenblick zuwarf. Das war dumm. Ich hätte so etwas nicht sagen sollen, überlegte Will. Mrs Dark stand schwankend auf dem Treppenabsatz. »Du gehörst zu den Sterblichen. Du bist nur einen winzigen Moment allein, einen einzigen kosmischen Atemzug lang. Aber ich bin für alle Ewigkeit allein«, stieß sie hervor und drückte den abgetrennten Kopf fest an sich. »Was spielt es für euch schon für eine Rolle? Sicherlich gibt es in London dunklere Verbrechen, die die Aufmerksamkeit der Schattenjäger dringender erfordern, als meine jämmerlichen Versuche, meine Schwester wieder zurückzuholen?«
Rasch schaute Will zu Jem, der jedoch nur die Achseln zuckte. Offensichtlich war er genauso verwirrt wie Will.