»Es stimmt zwar, dass Totenbeschwörung gegen das Gesetz verstößt«, sagte Jem, »aber das gilt auch für die Verquickung von Dämonenenergie. Und dieser Tatbestand erfordert unsere Aufmerksamkeit — und zwar ziemlich dringend, würde ich meinen.«
Mrs Dark starrte ihn entgeistert an. »Verquickung von Dämonenenergie?«
»Leugnen hat keinen Zweck — wir kennen Ihre Pläne bis ins Detail«, erwiderte Will. »Wir wissen von den Automaten, von der Verquickungsformel, vom Auftrag des Magisters — den die restliche Brigade genau in diesem Moment in seinem Versteck aufspürt. Sobald sich die Nacht dem Ende entgegenneigt, wird er für immer von der Erdoberfläche verschwunden sein. Und dann gibt es niemanden mehr, an den Sie sich wenden können, und keinen Ort, wo Sie noch Zuflucht finden.«
Bei diesen Worten erbleichte Mrs Dark. »Der Magister?«, wisperte sie. »Ihr habt den Magister gefunden? Aber wie ...?«
»Ganz recht«, bestätigte Will. »De Quincey ist uns einmal entwischt, aber diesmal wird das nicht geschehen. Wir wissen, wo er steckt, und ...«
Doch seine Worte wurden übertönt ... von kreischendem Gelächter. Mrs Dark hielt sich am Treppengeländer fest, krümmte sich vor Lachen und konnte gar nicht mehr aufhören zu wiehern. Verwirrt starrten Will und Jem sie an, bis die Hexe sich endlich wieder fing und langsam aufrichtete. Dunkelgraue Lachtränen liefen ihr über die Wangen. »De Quincey, der Magister?!«, prustete sie. »Dieser tuntige, herausgeputzte Vampir? Oh, welch ein Witz! Ihr Narren, ihr dummen kleinen Narren!«
18
Dreissig Silberlinge
Entgeistert krabbelte Tessa rückwärts. Sophie kniete noch immer bei Agatha, die Hände auf die Brust der alten Frau gepresst. Blut sickerte durch den dünnen Stoffverband unter ihren Fingern. Agathas Gesicht war inzwischen weiß wie eine Wand und sie röchelte und gurgelte erbärmlich. Als sie die KlockwerkAutomaten erblickte, riss sie entsetzt die Augen auf und versuchte, Sophie von sich fortzuschieben, doch das noch immer schluchzende Dienstmädchen klammerte sich hartnäckig an die Köchin und weigerte sich, sie loszulassen.
»Sophie!«, brüllte eine Stimme von der Wendeltreppe, begleitet von dröhnenden Schritten auf den Steinstufen. Eine Sekunde später stürmte Thomas durch die Eingangshalle, in der Hand das massive Schwert, das Tessa kurz zuvor in seinem Besitz gesehen hatte. Hinter ihm lief Jessamine, ihren Sonnenschirm fest im Griff und dicht gefolgt von Nathaniel, der zu Tode verängstigt wirkte. »Was um Himmels willen ...?«, stieß Thomas hervor, verstummte dann und schaute von Sophie, Tessa und Agatha zur Tür und wieder zurück.
Die Automaten hatten inzwischen innegehalten und sich direkt hinter der Türschwelle in einer Reihe aufgestellt — so reglos wie Marionetten, deren Fäden nicht länger bewegt wurden. Ihre ausdruckslosen Gesichter blickten stur geradeaus.
»Agatha!« Sophies Schluchzen steigerte sich zu einem Heulen. Die alte Frau lag nun still da, mit weit aufgerissenen, starren Augen und schlaff herabhängenden Armen.
Obwohl der Gedanke, den Kreaturen den Rücken zuzukehren, Tessa eine Gänsehaut bereitete, beugte sie sich zu Sophie hinab und berührte sie behutsam an der Schulter. Doch das Mädchen schüttelte ihre Hand ab und stieß kleine wimmernde Töne aus, wie ein gequälter Welpe. Hastig warf Tessa einen Blick in Richtung der Automaten. Sie verharrten weiterhin reglos wie Schachfiguren in der Türöffnung — doch wie lange mochte dieser Zustand noch anhalten? »Sophie, bitte!«, flehte Tessa.
Hinter ihr schnappte Nate keuchend nach Luft, die Augen auf den Boden geheftet. Er war totenbleich und sah aus, als würde er am liebsten auf dem Absatz kehrtmachen und die Flucht ergreifen. Jessamine warf ihm einen einzigen Blick zu — eine Mischung aus Überraschung und Abscheu — und wandte sich dann an Thomas: »Sieh zu, dass sie auf die Beine kommt! Du bist der Einzige, auf den sie hört.«
Einen Moment lang musterte Thomas die junge Schattenjägerin verwundert, dann beugte er sich zu Sophie hinab, löste sanft, aber entschlossen ihre Finger von Agathas Arm und zog sie auf die Füße. Sofort klammerte sich das Mädchen an den jungen Dienstboten. Ihre Hände und Arme leuchteten hellrot, als käme sie gerade von der Schlachtbank; ihre Schürze war zerrissen und mit blutigen Fingerabdrücken übersät.
»Miss Lovelace«, raunte Thomas Jessamine leise zu, während er Sophie mit der unbewaffneten Hand fest an sich drückte. »Miss Lovelace, bitte bringen Sie Sophie und Miss Gray in das Sanktuarium ...«
»Nein!«, verkündete in dem Moment eine schleppende Stimme hinter Tessa. »Das sehe ich anders. Oder sagen wir mal so: Von mir aus können Sie das Dienstmädchen nehmen und fortbringen, wohin auch immer. Aber Miss Gray bleibt hier. Und das Gleiche gilt für ihren Bruder.«
Die Stimme klang vertraut, erschreckend vertraut. Langsam drehte Tessa sich um.
Zwischen den reglosen Automaten war wie von Zauberhand ein Mann aufgetaucht. Ein Mann, der noch genauso herkömmlich und durchschnittlich wirkte wie bei seinem ersten Besuch — nur dass er dieses Mal keinen Hut trug, sodass sein schütteres Haar im Elbenlicht grau schimmerte.
Mortmain.
Und er lächelte — allerdings kein umgängliches, freundliches Lächeln, sondern eines, aus dem Häme und Schadenfreude sprach. »Nathaniel Gray«, grinste er breit. »Hervorragende Arbeit! Ich muss gestehen, dass mein Vertrauen in dich auf eine harte — eine sehr harte — Probe gestellt wurde, doch du hast deine vergangenen Fehltritte auf vortreffliche Weise wiedergutgemacht. Ich bin stolz auf dich.«
Tessa wirbelte zu ihrem Bruder herum, aber Nate schien ihre Anwesenheit vollkommen vergessen zu habe — ihre und die aller anderen.
Er starrte Mortmain unverwandt an, mit einem sonderbaren Ausdruck im Gesicht, einer Mischung aus Angst und Ehrfurcht. Dann setzte er sich in Bewegung und drängte sich an Tessa vorbei, die ihn zurückzuhalten versuchte. Doch mit einer gereizten Geste schob er ihre ausgestreckte Hand fort. Als er schließlich direkt vor Mortmain stand, fiel er mit einem unterdrückten Aufschrei auf die Knie, die Hände wie zum Gebet erhoben, und stieß hervor: »Es war stets mein innigster Wunsch, nur Ihnen zu dienen, Magister.«
Mrs Dark lachte noch immer.
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Jem verwirrt und mit lauter Stimme, um sich über ihr schallendes Gelächter hinweg verständlich zu machen.
»Wie meinen Sie das?«
Trotz ihres zerlumpten Erscheinungsbildes wirkte Mrs Dark fast schön königlich in ihrem Triumphgefühl. »De Quincey ist nicht der Magister«, höhnte sie.
»Er ist nur ein lächerlicher Blutsauger, keinen Deut besser als all die anderen. Dass ihr euch so leicht in die Irre habt führen lassen, beweist nur, dass ihr nicht einmal ahnt, wer der Magister tatsächlich ist — oder was euch bevorsteht. Ihr seid so gut wie tot, meine kleinen Schattenjäger. Kleine wandelnde Todgeweihte.«
Ihre letzte Bemerkung war zu viel für Wills hitziges Temperament. Mit einem wütenden Knurren stürmte er die Treppe hinauf, die Seraphklinge in der ausgestreckten Hand. Jem versuchte noch, ihn aufzuhalten, doch es war bereits zu spät: Mrs Dark fletschte die Zähne wie eine zischende Kobra, schwang den Arm hoch über den Kopf und schleuderte Will das abgetrennte Haupt ihrer Schwester entgegen. Der Schattenjäger stieß einen angeekelten Schrei aus und wich zur Seite aus, was die Hexe sofort ausnutzte: Sie flog die Treppe hinunter, an Will vorbei und durch den westlichen Torbogen der Eingangshalle, wo sie in den dahinterliegenden Schatten verschwand.
In der Zwischenzeit polterte Mrs Blacks Kopf die Stufen herab und kam erst vor Wills Stiefelspitzen zur Ruhe. Betreten schaute er nach unten und zuckte zurück. Eines von Mrs Blacks Lidern war zugefallen und ihre graue, ledrige Zunge hing schlaff aus dem Mund, so als würde sie ihn anzüglich angrinsen.