»Ich glaube, mir wird gleich schlecht«, verkündete Will angewidert.
»Dafür ist jetzt keine Zeit! Los, komm schon ...!«, rief Jem, bereits auf dem Weg zum Torbogen, um Mrs Dark nachzusetzen.
Will stupste den abgetrennten Kopf der Hexe mit der Stiefelspitze aus dem Weg und folgte seinem Freund im Laufschritt.
»Magister?«, wiederholte Tessa verständnislos. Aber das kann nicht sein! De Quincey ist der Magister.
Auch die Kreaturen auf der Brücke haben gesagt, dass sie ihm dienen. Und Nate hat ... Bestürzt starrte Tessa ihren Bruder an. »Nate?«
Es war ein Fehler, den Namen ihres Bruders laut auszusprechen. Sofort heftete Mortmain seinen Blick auf Tessa und grinste breit. »Ergreift die Gestaltwandlerin!«, befahl er den Klockwerk-Kreaturen. »Lasst sie nicht entkommen!«
»Nate!«, schrie Tessa auf. Doch ihr Bruder schaute sich nicht einmal nach ihr um, als die Automaten, plötzlich zum Leben erweckt, sirrend und klickend auf sie zumarschierten und sie packten: Einer der Klockwerk-Männer legte seine Metallarme wie einen Schraubstock um ihren Brustkorb und schnürte ihr die Luft ab.
Mortmain musterte Tessa spöttisch. »Gehen Sie mit Ihrem Bruder nicht zu hart ins Gericht, Miss Gray. Er ist wirklich schlauer, als ich gedacht hatte. Immerhin war es seine Idee, die jungen Herren Carstairs und Herondale mit einer weit hergeholten Geschichte aus dem Haus zu locken, damit ich ungehindert zuschlagen konnte.«
»Was geht hier vor?« Jessamines Stimme zitterte, während sie von Nate zu Tessa, dann zu Mortmain und wieder zurückschaute. »Ich verstehe das alles nicht. Wer ist dieser Mann, Nate? Und warum kniest du vor ihm?«
»Er ist der Magister«, sagte Nate. »Und wenn du klug wärst, würdest auch du vor ihm niederknien.«
Jessamine starrte ihn ungläubig an. »Das ist de Quincey?«
Nates Augen blitzten auf. »De Quincey ist ein Handlanger, ein Leibeigener. Er gehorcht dem Magister. Kaum jemand kennt die wahre Identität des Magisters, aber ich bin einer der wenigen. Der Auserwählte.«
Jessamine schnaubte verächtlich. »Auserwählt, um auf dem Boden zu knien?«
Erneut funkelten Nates Augen wütend. Er rappelte sich auf und brüllte Jessamine an. Aber Tessa konnte ihn nicht verstehen: Die Schraubstockarme des Automaten hatten sich so fest um ihren Brustkorb geschlossen, dass sie kaum noch Luft bekam und bereits schwarze Flecken vor den Augen sah. Wie aus weiter Entfernung hörte sie, dass Mortmain dem KlockwerkMann befahl, seinen Griff etwas zu lockern, doch die Kreatur reagierte nicht. Am Rande der Ohnmacht schlug Tessa mit rasch schwindenden Kräften nach den Metallarmen und spürte nur vage ein Flattern an ihrer Kehle — ein Flattern wie von einem Kolibri oder Schmetterling, der unter dem Kragen ihres Kleides gefangen saß.
Die Kette um ihren Hals vibrierte und zuckte. Irgendwie gelang es Tessa, nach unten zu schauen: Mit verschwommenem Blick erkannte sie zu ihrer Verwunderung, dass der kleine Metallengel unter ihrem Kragen hervorgekommen war. Pfeilschnell stieg er auf und hob dabei die Kette über ihren Kopf. Seine Augen schienen zu glühen — und zum ersten Mal hatte er die Metallschwingen weit ausgebreitet, deren Ränder mit irgendeiner schimmernden Substanz versehen waren und rasiermesserscharf glitzerten. Während Tessa erstaunt zusah, begab sich der Engel wie eine Hornisse in den Sturzflug und attackierte den Kopf des Klockwerk-Mannes mit seinen scharfkantigen Schwingen, die durch die Kupfer- und Metallschichten der Kreatur schnitten und einen Sprühregen aus roten Funken erzeugten.
Obwohl die Funken Tessas Hals wie glühende Eisenpartikel versengten, nahm sie die winzigen Verbrennungen kaum wahr. Denn der Automat lockerte seinen Griff, und während er unkoordiniert umhertorkelte und wild mit den Metallarmen um sich schlug, wand Tessa sich aus seiner Umklammerung. Sein Anblick erinnerte sie an eine Zeichnung, die sie einmal gesehen hatte: Er wirkte wie ein verärgerter Gentleman, der bei einem Gartenfest wütend ein paar Bienen verscheuchte.
Mortmain, der eine Spur zu spät begriff, was da vor sich ging, schrie den anderen Automaten einen Befehl zu, woraufhin diese sich in Bewegung setzten und auf Tessa zustürzten.
Verzweifelte schaute Tessa sich um, konnte den winzigen Engel jedoch nirgends mehr sehen. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
»Tessa! Aus dem Weg!« Eine kalte kleine Hand packte sie am Handgelenk: Jessamine riss sie zur Seite, während Thomas, der Sophie freigegeben hatte, nach vorn stürmte. Resolut schob Jessamine Tessa rückwärts in Richtung Treppe und rückte dann mit wirbelndem Sonnenschirm vor; aus ihrem Gesicht sprach eiserne Entschlossenheit.
Thomas ging als Erster zum Angriff über: Er schwang sein Schwert und schlitzte einer Kreatur, die mit ausgestreckten Metallgreifern auf ihn zukam, mit einem gewaltigen Schlag den Brustkorb auf. Laut sirrend taumelte der Automat rückwärts; rote Funken sprühten wie Blut aus seinem Rumpf. Der Anblick entlockte Jessamine ein harsches Lachen und sie schlug mit ihrem Schirm um sich. Die wirbelnde, scharfe Gewebekante durchtrennte die Beine von gleich zwei Klockwerk-Männern, die daraufhin nach vorn stürzten und wie Fische an Land hilflos über den Boden zappelten.
Mortmain zog eine verärgerte Miene. »Ach, Herrgott noch mal! Du ...« Ungeduldig schnippte er mit den Fingern und zeigte auf einen Automaten, an dessen rechtem Handgelenk eine Art Metallröhre angeschweißt zu sein schien. »Erledige sie ... die Schattenjägerin.«
Mit einer eckigen Bewegung riss die Kreatur den Arm hoch und eine grellrote Flamme schoss aus der Röhre. Der Kugelblitz traf Jessamine voll in die Brust und schleuderte sie rückwärts. Der Schirm entglitt ihrer Hand, als sie zu Boden ging und zuckend und mit weit geöffneten, glasigen Augen liegen blieb. Nathaniel, der sich neben Mortmain an den Rand des Kampfgetümmels verdrückt hatte, lachte spröde. In dem Moment verspürte Tessa einen heißen, unbändigen Hass, dessen Intensität sie selbst erschreckte. Am liebsten hätte sie sich auf Nate gestürzt und ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zerfurcht oder ihn so lange getreten, bis er vor Schmerz geschrien hätte. Dazu hätte es nicht viel bedurft, wie Tessa genau wusste. Wenn es um das Erdulden von Schmerzen ging, war Nathaniel schon immer ein Feigling gewesen. Sie wollte sich gerade in Bewegung setzen, doch die Kreaturen, die Jessamine außer Gefecht gesetzt hatten, marschierten bereits wieder auf sie zu. Sofort schob Thomas sich vor Tessa. Seine schweißfeuchten Haare klebten ihm im Gesicht und quer über seine Hemdbrust verlief ein langer, blutiger Riss. Majestätisch schwang er das Schwert mit großen, weit ausholenden Bewegungen. Sicher war es nur eine Frage von Minuten, bis er die Kreaturen vollends in der Luft zerfetzt hatte. Doch die KlockwerkMänner erwiesen sich als überraschend geschickt. Immer wieder wichen sie seinen Hieben aus und strebten unbeirrt und mit starrem Blick in Tessas Richtung. Thomas wirbelte zu Tessa herum und brüllte panisch: »Miss Gray! Schnell! Bringen Sie Sophie fort!«
Tessa zögerte. Sie wollte nicht fliehen. Sie wollte ihren Mann stehen. Doch Sophie kauerte wie gelähmt hinter ihr, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.
»Sophie!«, schrie Thomas, und als Tessa die Angst in seiner Stimme hörte, wusste sie, dass sie hinsichtlich seiner Gefühle für Sophie recht gehabt hatte.
»Das Sanktuarium! Laufl«
»Nein!«, brüllte Mortmain und wandte sich an den Klockwerk-Mann, der Jessamine attackiert hatte. Als dieser den Arm hob, packte Tessa das Dienstmädchen am Handgelenk und zog sie in Richtung Treppe. Im nächsten Moment schlug ein roter Kugelblitz krachend in der Wand neben ihnen ein. Tessa schrie auf, verlangsamte ihre Schritte aber nicht und zerrte Sophie die Wendeltreppe hinauf, verfolgt vom Geruch des Schießpulvers und dem Gestank des Todes.