»Der Magister ... Er wird glauben, ich hätte es euch verraten. Jetzt wird er mir niemals vergeben ...«
»Mortmain?«, wiederholte Jem. »Aber er ist doch derjenige, der uns gewarnt hat ... Ah.« Er schwieg kurz. »Ich verstehe«, fügte er hinzu, inzwischen kreidebleich im Gesicht.
Will wusste, dass Jems Gedanken nun in dieselbe Richtung rasten wie seine eigenen kurz zuvor. Und da er insgeheim den Verdacht hegte, dass sein Freund schlauer war als er, nahm er an, dass Jem vermutlich sogar als Erster darauf gekommen wäre — wenn ihm nicht Wills angeborener Hang zur Skepsis gefehlt hätte, der Will immer das Schlimmste von anderen Leuten annehmen ließ.
»Mortmain hat uns belogen, was die Dunklen Schwestern und die Verquickungsformel betrifft«, erkannte Jem nun. »Genau genommen war er sogar derjenige, der Charlotte überhaupt erst den Floh ins Ohr gesetzt hat, de Quincey sei der Magister. Wenn er nicht gewesen wäre, hätten wir den Vampir niemals verdächtigt. Aber wozu der ganze Aufwand?«
»De Quincey ist eine widerliche Bestie«, heulte Mrs Dark, die noch immer inmitten des Pentagramms kauerte. Offenbar war sie zu dem Schluss gekommen, dass weiteres Leugnen keinen Zweck hatte. »Der Vampir hat Mortmain bei jeder Gelegenheit zuwidergehandelt und wollte sich sogar selbst zum Magister machen. Eine derartige Gehorsamsverweigerung muss bestraft werden.«
Will tauschte einen kurzen Blick mit Jem und erkannte, dass sein Freund dasselbe dachte wie er.
»Mortmain ergriff die günstige Gelegenheit, ein schlechtes Licht auf einen Rivalen zu werfen«, überlegte Jem laut. »Nur aus diesem Grund hat er de Quincey gewählt.«
»Es wäre durchaus denkbar, dass er die Pläne für die Automaten in de Quinceys Bibliothek versteckt hat«, pflichtete Will ihm bei. »Denn de Quincey hat zu keinem Zeitpunkt zugegeben, dass sie ihm gehörten. Genau genommen schien er sie nicht einmal wiederzuerkennen, als Charlotte ihn damit konfrontierte. Des Weiteren kann Mortmain den Automaten auf der Brücke durchaus befohlen haben, sich als Handlanger des Vampirs auszugeben. Und es war für ihn sicherlich auch kein Problem, de Quinceys Zeichen in der Brust dieses Klockwerk-Mädchens zu hinterlassen und sie im Dunklen Haus zu deponieren, damit wir sie dort finden — alles nur, um den Verdacht von sich zu lenken.«
»Aber Mortmain ist nicht der Einzige, der mit dem Finger auf de Quincey gezeigt hat«, fügte Jem mit ernster Stimme hinzu. »Da wäre noch Nathaniel Gray. Tessas Bruder. Und wenn zwei Leute dieselbe Lüge verbreiten ...«
»... dann arbeiten sie in der Regel zusammen«, beendete Will den Satz. Einen kurzen Moment empfand er fast so etwas wie Genugtuung — die jedoch schnell wieder verflog. Er hatte Nathaniel Gray von Anfang an nicht gemocht und es nicht ausstehen können, dass Tessa ihren Bruder so behandelte, als könnte dieser kein Wässerchen trüben. Und natürlich hatte er sich für seine Eifersucht anschließend selbst verachtet. Doch so schön die Erkenntnis auch sein mochte, dass er sich im Hinblick auf Nates Charakter nicht getäuscht hatte, die Konsequenzen waren nicht auszudenken.
Mrs Dark brach in ein hohes, heulendes Gelächter aus. »Nate Gray«, schnaubte sie. »Das kleine menschliche Schoßhündchen des Magisters. Gray hat seine eigene Schwester an Mortmain verkauft. Für eine Handvoll Silberlinge, jawohl. Nur für ein paar Schmeicheleien. Etwas Derartiges hätte ich meiner Schwester niemals angetan. Und da behauptet ihr, wir Dämonen wären bösartig und die Menschen müssten vor uns beschützt werden!« Ihre Stimme überschlug sich fast vor höhnischem Gelächter.
Will ignorierte sie — sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Gütiger Gott, diese Geschichte, die Nathaniel ihnen über de Quincey aufgetischt hatte, war eine Lüge gewesen ... nichts als ein Trick, um die Nephilim auf eine falsche Fährte zu locken. Aber warum war Mortmain kurz nach dem Aufbruch der Brigade im Institut erschienen? Um uns loszuwerden, Jem und mich, dachte Will grimmig. Nate konnte nicht wissen, dass wir zwei Charlotte und Henry nicht begleiten würden. Also musste er improvisieren, als wir im Institut zurückblieben. Und aus diesem Grund ist dann Mortmain aufgetaucht, mit einem weiteren Ammenmärchen. Nate hat von Anfang an mit Mortmain unter einer Decke gesteckt.
Und jetzt ist Tessa allein mit ihm im Institut! Will spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre sofort zum Institut zurückgefahren, um Nathaniels Kopf wieder und wieder gegen eine Wand zu schlagen. Nur jahrelanges Training und die Sorge um Henry und Charlotte hielten ihn davon ab.
Aufgebracht wandte er sich an Mrs Dark: »Wie lautet Mortmains Plan? Was erwartet die Brigade, wenn sie am Carleton Square eintrifft? Ein Blutbad? Antworte mir!«, brüllte er. Die Angst ließ seine Stimme brechen. »Oder ich werde dafür sorgen, dass der Rat dich vor deiner Hinrichtung foltern wird, das schwöre ich beim Erzengel! Was plant Mortmain?«
Mrs Darks gelbe Augen blitzten. »Worauf hat der Magister es abgesehen? Was ist das Einzige, das ihn je interessiert hat?«, zischte sie. »Er verachtet die Nephilim, aber was ist es, was er wirklich will?«
»Tessa«, antwortete Jem prompt. »Aber sie befindet sich in Sicherheit. Nicht einmal Mortmains vermaledeite Klockwerk-Armee kann ins Institut hineingelangen. Selbst wenn wir beide hier und nicht vor Ort sind ...«
Mrs Dark lachte und erwiderte mit schmeichlerischer Stimme: »Als ich noch das Vertrauen des Magisters genoss, hat er mir von einem Plan erzählt, wie er in euer Institut einzudringen gedenkt. Er beabsichtigte, die Hände seiner Mechanik-Kreaturen mit dem Blut eines Schattenjägers zu bepinseln, um auf diese Weise die Portaltür zu öffnen.«
»Mit dem Blut eines Schattenjägers?«, wiederholte Will. »Aber ...«
»Will«, sagte Jem leise, beide Hände auf die Stelle gelegt, wo die Klockwerk-Kreatur ihm in jener Nacht vor dem Institut die Brust aufgerissen hatte. »Mein
Blut.«
Einen Moment stand Will vollkommen reglos da und starrte seinen Freund stumm an. Dann wirbelte er herum und rannte zum Ausgang des Speisesaals, dicht gefolgt von Jem, der sich den Käfig mit dem Kater schnappte und ihm nachstürmte. Doch als sie die Tür erreichten, flog diese wie von Geisterhand bewegt vor ihrer Nase krachend ins Schloss. Abrupt kam Will zum Stehen und drehte sich zu Jem um, der genauso verblüfft schaute wie er selbst.
Im Inneren ihres Pentagramms brach Mrs Dark in johlendes Gelächter aus. »Nephilim«, keuchte sie zwischen zwei Lachsalven. »Törichte, kleine Nephilim. Wo ist euer Erzengel, jetzt, da ihr ihn braucht?«
Im nächsten Moment schossen gewaltige Feuersäulen an den Wänden empor, sprangen auf die Vorhänge vor den Fenstern über und züngelten über den Boden. Die Flammen brannten in einem seltsamen blaugrünen Licht und sofort breitete sich ein dichter, beißender Qualm im Raum aus — Dämonengestank. Der Kater in dem Käfig begann wie wild in seinem Gefängnis herumzutoben, und warf sich wieder und wieder jaulend gegen die Gitterstäbe.
Hastig zückte Will eine zweite Seraphklinge und brüllte: »Anael!« Das Schwert leuchtete sofort grell auf, doch Mrs Dark lachte nur.
»Wenn der Magister eure verkohlten Leichen sieht, wird er mir vergeben!«, jubelte sie. »Dann wird er mich wieder willkommen heißen!« Ihr meckerndes Gelächter steigerte sich zu einem hohen, grässlichen Heulen, während sich der Saal mit dunklem, undurchdringlichem Rauch füllte.
Jem hielt sich einen Arm vor den Mund und rief Will mit erstickter Stimme zu: »Töte sie! Töte sie und das Feuer wird sofort erlöschen!«
Beide Hände fest um den Griff seines Schwerts geklammert, erwiderte Will knurrend: »Glaubst du ernsthaft, das hätte ich nicht längst getan, wenn ich könnte? Sie befindet sich im Inneren des Pentagramms!«
»Ich weiß.« Jem warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. »Will, schneid sie durch!«