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Da Will und Jem sich blind verstanden, begriff Will sofort, was sein Freund meinte. Er wirbelte zu dem Pentagramm herum, hob das strahlende Seraphschwert, zielte und schleuderte die Waffe — allerdings nicht gegen die Dämonin, sondern in Richtung der dicken Metallkette, die den schweren Kristalllüster trug. Die Klinge durchtrennte die Kette so mühelos wie ein Messer einen Papierbogen. Dann ertönte ein reißendes Geräusch und der Dämonin blieb gerade noch Zeit, einen einzigen schrillen Schrei auszustoßen, bevor der wuchtige Kronleuchter herabstürzte — ein berstender Komet aus knirschendem Metall und klirrendem Glas.

Schützend riss Will die Arme vor die Augen, als der Boden unter seinen Füßen wie bei einem Erdstoß bebte. Einen Sekundenbruchteil später ging ein Hagel aus Marmorbrocken, Kristallscherben und Metallstücken auf ihn herab.

Als sich das Chaos nach einer Weile legte, öffnete er vorsichtig die Augen. Der Kronleuchter lag zersplittert und vollkommen verbogen vor ihm, wie ein gewaltiges Schiffswrack auf dem Meeresboden. Dünne Staubsäulen stiegen aus den Trümmern auf und unter einem Haufen aus scharfkantigen Glasscherben und spitzen Metallteilen sickerte schwarzgrünes Blut hervor ...

Jem hatte recht gehabt: Die Flammen waren erloschen. Er selbst stand — den Käfig mit dem Kater fest in der Hand — vor dem Trümmerhaufen und betrachtete Wills Werk. Staub hatte seine ohnehin hellen Haare noch weißer getönt und seine Wangen waren mit Asche beschmiert. »Gute Arbeit, William!«, bemerkte er anerkennend.

Doch Will reagierte nicht — dafür war jetzt keine Zeit. Er stieß die Tür, die sich nun mühelos öffnen ließ, weit auf und stürmte aus dem Saal.

Tessa und Sophie liefen die endlosen Stufen der Institutstreppe hinauf, bis Sophie keuchend rief: »Hier entlang! Durch diese Tür!« Sofort warf Tessa sich dagegen und fiel förmlich in den dahinterliegenden Flur. Sophie entzog sich ihrem Griff und wirbelte herum, um die Tür zu schließen und den Riegel vorzuschieben. Nach Luft schnappend lehnte sie sich einen Moment gegen das Holz. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Miss Jessamine«, wisperte sie. »Glauben Sie, dass sie ...?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Tessa kurzatmig.

»Aber du hast gehört, was Thomas gesagt hat. Wir müssen es zum Sanktuarium schaffen, Sophie. Dort werden wir in Sicherheit sein.« Und Thomas will, dass ich auch in Zukunft für deine Sicherheit sorge. »Du musst mir zeigen, wo dieser Raum liegt. Ich finde mich hier allein nicht zurecht.«

Sophie nickte langsam und richtete sich auf. Schweigend führte sie Tessa durch ein Labyrinth gewundener Gänge, bis sie schließlich den dunklen Korridor betraten, den Tessa von ihrem ersten Treffen mit Camille wiedererkannte. Sophie nahm ein Elbenlicht aus der Wandhalterung und lief voran. Endlich erreichten sie die massive Eisentür, auf deren Oberfläche die beiden mit dem Rücken aneinandergrenzenden C prangten.

Plötzlich hielt Sophie abrupt inne und schlug bestürzt eine Hand vor den Mund. »Der Schlüssel!«, wisperte sie. »Ich hab den verdammten — 'tschuldigung, Miss — Schlüssel vergessen!«

Tessa spürte, wie eine Woge frustrierter Wut in ihr aufwallte, aber es gelang ihr, den Anfall zu unterdrücken. Sophie hatte gerade miterleben müssen, wie eine gute Freundin in ihren Armen gestorben war; man konnte es ihr wohl kaum verübeln, dass sie den Schlüssel vergessen hatte. »Weißt du, wo Charlotte ihn aufbewahrt?«, fragte Tessa drängend.

Sophie nickte. »Ich lauf schnell los und hol ihn. Warten Sie hier, Miss.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte davon.

Tessa schaute ihr nach, bis ihre weiße Haube und die hell schimmernden Ärmelaufschläge in den Schatten verblassten und sie allein in der Dunkelheit zurückblieb. Der Flur wurde nur von einem schmalen Lichtstreifen erhellt, der unter der Tür des Sanktuariums hindurchfiel. Tessa presste sich mit dem Rücken gegen die Wand, als könnte sie darin verschwinden. Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder und wieder, wie das Blut aus Agathas Brustkorb schoss und Sophies Hände hellrot verfärbte. Und sie hatte noch immer das spröde Gelächter ihres Bruders in den Ohren, als der rote Kugelblitz Jessamine traf ...

Da war es wieder — harsch und spröde wie knirschendes Glas hallte es durch die Dunkelheit. Sicher bildete sie sich das nur ein. Langsam drehte Tessa sich um, in Richtung des Gelächters — und dort, wo wenige Minuten zuvor nur ein leerer Gang gewesen war, stand nun jemand. Jemand mit hellen Haaren und einem breiten Grinsen im Gesicht. Jemand mit einem dünnen, langen Messer in der rechten Hand.

Nate.

»Meine kleine Tessie«, spottete er. »Das war wirklich beeindruckend. Ich hätte nicht gedacht, dass du oder das Dienstmädchen so schnell laufen könnt.« Er wirbelte das Messer zwischen seinen Fingern. »Zu deinem Pech hat mich mein Gebieter jedoch mit gewissen ... Kräften ausgestattet. Ich kann mich inzwischen schneller bewegen, als du denken kannst.« Er lächelte süffisant. »Wahrscheinlich bedeutend schneller, wenn man berücksichtigt, wie lange du gebraucht hast, um die Zusammenhänge zu begreifen.«

»Nate«, stieß Tessa mit zittriger Stimme hervor.

»Es ist noch nicht zu spät. Du kannst noch aufhören.«

»Womit aufhören?« Nate sah sie direkt an — zum ersten Mal, seit er in der Eingangshalle vor Mortmain niedergekniet war. »Ich soll damit aufhören, unermessliche Kräfte und immenses Wissen zu gewinnen? Oder damit, der Lieblingsjünger des mächtigsten Mannes von ganz London zu sein? Ich wäre ein rechter Narr, wenn ich mit alldem aufhören würde, kleines Schwesterlein.«

»Lieblingsjünger? Wo war Mortmain denn, als de Quincey kurz davor stand, dir sämtliches Blut aus den Adern zu saugen?«

»Ich hatte ihn enttäuscht«, sagte Nate. »Du hast ihn enttäuscht. Du bist aus dem Haus der Dunklen Schwestern geflohen, obwohl du wusstest, was das für mich bedeutete. Deine schwesterliche Zuneigung lässt etwas zu wünschen übrig, Tessie.«

»Ich habe mich um deinetwillen von den Dunklen Schwestern foltern lassen, Nate. Ich habe alles für dich getan. Und du ... du hast mich glauben lassen, de Quincey sei der Magister. All die Dinge, die du behauptet hast ... alles, was de Quincey angeblich getan hat, das war in Wahrheit Mortmains Werk, stimmt’s? Er war derjenige, der mich nach England holen ließ. Er war derjenige, der die Dunklen Schwestern beauftragt hat. Dieser ganze Unsinn über de Quincey diente nur dazu, die Brigade vom Institut fortzulocken.«

Nate grinste. »Wie hat Tante Harriet immer so schön gesagt: ›Zu spät gescheit ist oft bereut!‹«

»Und was wird die Brigade vorfinden, wenn sie bei der Adresse eintrifft, die du als de Quinceys Versteck angegeben hast? Nichts? Ein leeres Haus, eine niedergebrannte Ruine?« Langsam wich Tessa zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die kalte Oberfläche der Eisentür stieß.

Nate folgte ihr und seine Augen glitzerten wie die Klinge in seiner Hand. »Aber nein. Dieser Teil der Geschichte ist wahr. Es wäre doch nicht sinnvoll, wenn die Brigade zu schnell erkennen würde, dass man sie zum Narren gehalten hat, oder? Sie soll ruhig ein Weilchen beschäftigt sein — und das Ausräuchern von de Quinceys Nest dürfte sie in der Tat ein paar Stunden kosten.« Er zuckte die Achseln. »Übrigens bist du diejenige, die mich erst darauf gebracht hat, dem Vampir an allem die Schuld in die Schuhe zu schieben. Nach den Ereignissen neulich Abend war er sowieso ein toter Mann — die Nephilim hatten ihn damit im Visier, was ihn für Mortmain nutzlos machte. Und die Tatsache, dass wir ihm nun die Brigade auf den Hals geschickt haben, um ihn zu beseitigen, und Will und Jem fortgelockt haben, damit sie meinem Gebieter diese lästige Mrs Dark vom Hals schaffen ... nun ja, das ist wie drei Fliegen mit einer Klappe schlagen, oder? Ein ziemlich genialer Schachzug von mir, wenn ich das mal so sagen darf, findest du nicht auch?«

Er lobt sich selbst ... ist stolz auf seine eigenen Taten, dachte Tessa angewidert und hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt. Doch sie wusste, dass sie ihn dazu bringen musste weiterzureden, um selbst Zeit zu gewinnen — Zeit für einen Plan, wie sie sich aus dieser misslichen Lage befreien konnte. »Uns hast du auf jeden Fall gründlich hereingelegt«, erklärte sie und hasste sich dafür selbst. »Wie viel von der Geschichte ist denn wahr? Und wie viel hast du erfunden?«