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»Ach, große Teile davon entsprechen tatsächlich der Wahrheit, wenn du es unbedingt wissen willst. Die besten Lügen sind die, die auf der Wahrheit basieren, zumindest in Teilen«, prahlte Nathaniel selbstgefällig.

»Ich bin mit der festen Absicht nach London gekommen, Mortmain mit meinem Wissen über seine okkulten Machenschaften zu erpressen. Aber dann stellte sich heraus, dass ihn das überhaupt nicht kümmerte. Allerdings wollte er mich unbedingt kennenlernen, um sich Gewissheit zu verschaffen: Denn er war sich nicht sicher, ob ich das erst- oder zweitgeborene Kind unserer Eltern war. Er dachte, ich wäre möglicherweise du«, grinste Nate. »Als er dann erkannte, dass ich nicht das Kind war, nach dem er suchte, freute er sich wie ein Schneekönig — er wünscht sich nämlich ein Mädchen, musst du wissen.«

»Aber wozu? Was will er von mir?«

Erneut zuckte Nate die Achseln. »Ich weiß es nicht. Und es ist mir auch egal. Mortmain versprach mir, wenn ich dich herbeischaffen und ihm übergeben würde und du dich als das erweisen würdest, was er sich von dir erhoffte, dann würde er mich zu seinem Jünger machen. Doch nach deiner Flucht lieferte er mich zur Strafe an de Quincey aus. Und als du mich hierher brachtest, mitten in die Hochburg der Nephilim, war das für mich wie eine zweite Chance: Endlich konnte ich meinen Teil der Vereinbarung erfüllen.«

»Du hast ihn kontaktiert?« Tessa spürte, wie ihr übel wurde. Plötzlich musste sie an das geöffnete Fenster im Salon denken, an Nates gerötetes Gesicht und seine Behauptung, dass es bereits offen gewesen wäre. Irgendetwas sagte ihr, dass er Mortmain eine Nachricht geschickt hatte. »Du hast ihm mitgeteilt, dass die Nephilim dich aufgenommen haben? Und dass du bereit wärst, uns zu hintergehen? Aber du hättest hierbleiben können — und wärst in Sicherheit gewesen!«

»In Sicherheit, aber machtlos. Hier im Institut bin ich nur ein ganz gewöhnlicher Mensch, schwach und nichtswürdig. Aber als Mortmains Jünger werde ich direkt an seiner Seite stehen, wenn er das britische Weltreich regiert.«

»Du bist ja verrückt«, stieß Tessa hervor. »Die ganze Geschichte ist vollkommen lächerlich.«

»Ich kann dir versichern, dass sie alles andere als lächerlich ist. Genau heute in einem Jahr wird Mortmain es sich im Buckingham Palace bequem machen. Das Empire wird sich seiner Herrschaft beugen.«

»Aber du wirst nicht an seiner Seite sein. Ich habe gesehen, mit welchem Blick er dich bedacht hat: Du bist kein Jünger, sondern nur ein Werkzeug, das er benutzt. Und wenn er bekommen hat, was er will, dann wird er dich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.«

Nates Hand schloss sich fester um den Griff des Messers. »Das stimmt nicht!«

»Doch, es stimmt«, sagte Tessa. »Tante Harriet hat dich immer gewarnt, dass du viel zu vertrauensselig bist. Deshalb bist du auch ein so miserabler Spieler, Nate. Du lügst und betrügst andere nach Strich und Faden, kannst aber nicht erkennen, wenn man dich täuscht. Tante Harriet meinte ...«

»Tante Harriet . . Nate lachte leise. »Ihr Tod kam ja so überraschend ...«, grinste er. »Ist es dir eigentlich nicht merkwürdig erschienen, dass ich dir eine Schachtel Pralinen geschickt habe? Eine Süßigkeit, von der ich doch genau wusste, dass du sie nicht anrühren würdest? Während das liebe Tantchen sich mit Freuden darauf gestürzt haben dürfte ...«

Bei seinen Worten verspürte Tessa einen plötzlichen Übelkeitsanfall, einen heftigen Stich, als hätte Nathaniel ihr das Messer in den Magen gerammt und genüsslich darin umgedreht. »Nate ... das würdest du doch nicht ernsthaft tun ... Tante Harriet hat dich geliebt!«

»Du hast keine Ahnung, was ich alles tun würde, Tessie. Nicht die geringste.« Die Worte sprudelten wie im Fieberwahn aus ihm heraus: »Du hältst mich für einen tumben Narren. Deinen törichten Bruder, der vor der Welt beschützt werden muss, den man so leicht übertölpeln und ausnutzen kann. Ich habe gehört, wie ihr euch über mich unterhalten habt, du und Tante Harriet. Und ich weiß, dass keiner von euch beiden geglaubt hat, dass ich es jemals zu etwas bringen würde ... dass ich etwas leisten würde, worauf ihr stolz sein könntet. Aber jetzt habe ich es geschafft.

Jetzt habe ich es geschafft«, knurrte er, vollkommen taub gegenüber der Ironie in seinen Worten.

»Du hast es geschafft, einen Mörder aus dir zu machen! Und da glaubst du wirklich, darauf wäre ich auch noch stolz? Nein, Nate, ich schäme mich dafür, mit dir verwandt zu sein.«

»Mit mir verwandt? Dass ich nicht lache! Du bist ja nicht mal ein Mensch, sondern nur irgendein ... Ding. 

Mich verbindet nichts mehr mit dir. Seit dem Moment, als Mortmain mir erzählte, worum es sich bei dir tatsächlich handelt, bist du für mich gestorben. Ich habe keine Schwester mehr.«

»Und warum nennst du mich dann immer noch ›Tessie‹?«, fragte Tessa so leise, dass sie ihre Worte kaum selbst hören konnte.

Einen Augenblick lang sah Nathaniel sie vollkommen verwirrt an. Und als sie den Blick erwiderte und ihren Bruder betrachtete — den Bruder, von dem sie angenommen hatte, er sei das Einzige, was ihr noch geblieben war, bewegte sich plötzlich irgendetwas hinter Nates Schulter und Tessa fragte sich, ob sie wohl inzwischen Gespenster sah oder vielleicht kurz davor stand, in Ohnmacht zu fallen.

»Ich habe dich nicht ›Tessie‹ genannt«, erwiderte Nate schließlich, mit dünner, fast verlorener Stimme. In dem Moment wurde Tessa von einem überwältigenden Gefühl unendlicher Traurigkeit erfasst. »Du bist mein Bruder, Nate. Und du wirst immer mein Bruder bleiben.«

Nathaniel kniff die Augen leicht zusammen. Eine Sekunde lang dachte Tessa, dass er sie schließlich doch noch gehört hatte und sich nun eines Besseren besann. Doch dann erwiderte er: »Wenn du erst dem Magister gehörst, werde ich für immer mit ihm verbunden sein. Denn ich bin derjenige, der es ihm überhaupt ermöglicht hat, dich zu bekommen.«

Tessa sank der Mut. Plötzlich bewegte sich das Ding hinter Nates Schulter erneut, wie eine Verwirbelung der Schatten. Die Bewegung war echt — kein Trugbild ihrer Fantasie, erkannte Tessa im nächsten Moment. Hinter Nate war tatsächlich etwas. Irgendetwas, das sich langsam auf sie zubewegte. Tessa öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Sophie, dachte sie und hoffte inständig, dass das Mädchen genügend Menschenverstand besaß, um rasch wegzulaufen, ehe Nate sie mit dem Messer angreifen konnte.

»Also los, komm endlich«, forderte er Tessa nun auf. »Es besteht überhaupt kein Grund, so ein Theater zu machen. Der Magister wird dir schon nichts tun ...«

»Dessen kannst du dir doch gar nicht sicher sein«, widersprach Tessa. Inzwischen hatte sich die Gestalt bis dicht hinter Nate geschlichen; irgendetwas Helles schimmerte in ihrer Hand. Tessa zwang sich, den Blick weiterhin auf Nates Gesicht zu heften.

»Doch, das weiß ich genau«, knurrte Nathaniel ungeduldig. »Tessa, ich bin kein Narr . .«

In diesem Augenblick setzte sich die Gestalt schlagartig in Bewegung: Das helle, schimmernde Objekt schwebte einen Moment hoch über Nates Kopf und ging dann krachend auf seinen Schädel nieder. Nate torkelte vorwärts und brach bewusstlos zusammen. Als er auf dem Boden auftraf, entglitt die Klinge seiner schlaffen Hand. Und dann lag er reglos da. Blut sickerte zwischen seinen hellblonden Haaren hervor. Tessa schaute auf. Im Halbdunkel des Flurs konnte sie Jessamine erkennen, die mit einem wutentbrannten Ausdruck in den Augen über Nate gebeugt stand, die Überreste einer zerbrochenen Lampe in der linken Hand.

»Vielleicht kein Narr ...«, höhnte sie verächtlich und stieß mit dem Fuß gegen Nates ohnmächtige Gestalt, ». . aber auch nicht gerade der hellste Stern am Himmel.«