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»Aber wenn es nach dir gegangen wäre ...«, setzte Tessa an.

»Hättest du im Nu auf der Straße gestanden, allenfalls mit ein paar warmen Worten zum Abschied«, ergänzte Jessamine und rümpfte die Nase. Als sie sah, wie Sophie sie entgeistert anstarrte, fügte sie hinzu:

»Also, wirklich! Jetzt sei doch nicht so ein Duckmäuser, Sophie. Agatha und Thomas würden schließlich noch leben, wenn ich hier das Sagen gehabt hätte, oder etwa nicht?«

Sophie wurde kreidebleich und die Narbe auf ihrer Wange hob sich wie der Handabdruck einer Ohrfeige von ihrer weißen Haut ab. »Thomas ist tot?«, stieß sie entsetzt hervor.

Jessamine zögerte und schaute schuldbewusst wie jemand, der genau wusste, dass er einen Fehler begangen hat. »So habe ich das nicht gemeint.«

Doch Tessa musterte sie scharf. »Was ist passiert, Jessamine? Wir haben gesehen, wie du verletzt wurdest ...«

»Und ihr habt herzlich wenig dagegen unternommen«, schnaubte Jessamine und setzte sich schmollend auf den Beckenrand — offensichtlich schien sie der Zustand ihres Kleides nicht länger zu interessieren. »Ich war bewusstlos ... und als ich wieder zu mir kam, sah ich, dass ihr alle das Weite gesucht hattet, bis auf Thomas. Auch Mortmain war verschwunden, nur seine Klockwerk-Kreaturen nicht. Eines dieser Monster steuerte schon wieder auf mich zu und ich suchte verzweifelt nach meinem Sonnenschirm, doch er war völlig zertrampelt und zu nichts mehr zu gebrauchen. Dann sah ich, dass Thomas von diesen Kreaturen umzingelt war, und wollte ihm zu Hilfe eilen, aber er rief mir zu, ich solle fliehen. Also ... bin ich geflohen.« Trotzig hob sie das Kinn.

Sophies Augen blitzten aufgebracht. »Du hast ihn dort zurückgelassen? Vollkommen allein?«

Mit einer wütenden Geste knallte Jessamine das Messer auf den Beckenrand, das jedoch herunterrutschte und klirrend am Fuß des Springbrunnens liegen blieb. »Ich bin eine Dame, Sophie. Und es wird allgemein erwartet, dass ein Mann sich für die Sicherheit einer Dame aufopfert.«

»So ein Blödsinn!« Sophies Hände waren zu kleinen festen Fäusten geballt. »Sie sind eine Schattenjägerin! Und Thomas ist nur ein Irdischer! Sie hätten ihm helfen können. Aber das wollten Sie nicht, weil Sie nämlich viel zu egoistisch sind! Und ... und abscheulich!«

Jessamine starrte Sophie mit offenem Mund an.

»Wie kannst du es wagen, in diesem Ton ...«, setzte sie an, unterbrach sich aber, als plötzlich ein dumpfes Donnern durch das Sanktuarium hallte — das Dröhnen des Türklopfers.

Der Klopfer wurde ein zweites Mal betätigt und dann rief eine vertraute Stimme von der anderen Seite der Tür: »Tessa! Sophie! Ich bin’s, Will.«

»Gott sei Dank«, stieß Jessamine hervor — mindestens so erleichtert über die Tatsache, die hitzige Diskussion mit Sophie nicht länger fortführen zu müssen, wie über ihre bevorstehende Rettung. Hastig lief sie zur Tür. »Will! Hier ist Jessamine. Ich bin auch hier drin!«

»Und ist mit euch dreien auch alles in Ordnung?«

Will klang auf eine Weise besorgt, die Tessa die Kehle zuschnürte. »Was ist passiert? Wir sind von Highgate hierher zurückgerast und dann hab ich gesehen, dass die Türen des Instituts offen standen. Wie um alles in der Welt ist Mortmain hier hereingekommen?«

»Er hat die Schutzschilde irgendwie umgangen«, erwiderte Jessamine bitter und streckte die Hand nach der Türklinke aus. »Keine Ahnung, wie er das gemacht hat.«

»Ach, das spielt jetzt keine Rolle mehr. Er ist tot. Und die Klockwerk-Kreaturen sind alle vernichtet.«

Wills Ton klang beruhigend ... aber warum fühlte sie sich alles andere als beruhigt?, überlegte Tessa. Sofort drehte sie sich zu Sophie um, die wie gebannt auf die Tür starrte, eine scharfe senkrechte Falte auf der Stirn. Das Mädchen bewegte die Lippen, als würde sie irgendetwas wispern. In dem Moment erinnerte Tessa sich, dass Charlotte ihr erzählt hatte, Sophie besäße das zweite Gesicht — und das mulmige Gefühl in ihrem Magen schwoll schlagartig zu heller Panik an. »Jessamine!«, rief sie angsterfüllt. »Jessamine, rühr die Tür nicht an ...«

Doch es war bereits zu spät: Die beiden Türflügel schwangen weit auf. Und auf der Schwelle stand Mortmain, flankiert von seinen Klockwerk-Monstern.

Dem Erzengel sei Dank für diesen Zauberglanz, dachte Will. Denn der Anblick eines jungen Mannes, der ohne Sattel auf einem schwarzen Ross über die Farringdon Road preschte, hätte selbst in einer blasierten Metropole wie London für erhobene Augenbrauen gesorgt. Doch derart getarnt konnte Will dem Pferd freien Lauf lassen, das nun im rasenden Galopp durch die Straßen flog und dabei jede Menge Staub aufwirbelte — ohne dass auch nur irgendjemand den Kopf drehte oder mit der Wimper zuckte. Und obwohl die wenigen Passanten Ross und Reiter nicht sehen konnten, schienen sie dennoch immer wieder einen Grund zu finden, ihnen auszuweichen und nicht niedergetrampelt zu werden — eine herabgefallene Brille, nach der sich jemand bückte, ein Schritt zur Seite, um eine Pfütze zu umgehen.

Von Highgate bis zum Institut waren es ungefähr fünf Meilen. Auf dem Hinweg hatte die Kutsche eine Dreiviertelstunde dafür gebraucht, doch nun legte Will die Strecke in knapp zwanzig Minuten zurück. Allerdings war Balios schweißüberströmt und schnaufte mit geweiteten Nüstern, als die beiden durch das Institutstor preschten und vor den Eingangsstufen zum Stehen kamen.

Sofort sank Will der Mut: Die Portaltür war weit geöffnet ... sperrangelweit, als wolle sie die Nacht ins Haus einladen. Dabei galt es als schwerer Verstoß, die Tür des Instituts auch nur einen Spaltbreit offen stehen zu lassen.

Sein Gefühl hatte ihn also nicht getrogen: Hier war etwas Furchtbares im Gange!

Rasch ließ Will sich von Balios’ Rücken gleiten, wobei seine schweren Stiefel dröhnend auf dem Kopfsteinpflaster auftrafen. Dann schaute er sich nach einer Möglichkeit um, sein Pferd anzubinden. Aber da er das Zaumzeug durchtrennt hatte und Balios ihm einen Blick zuwarf, als würde er jeden Moment nach ihm schnappen, zuckte Will nur die Achseln und lief die Stufen hinauf.

Jessamine rang erschrocken nach Atem und wich ruckartig zurück, als Mortmain das Sanktuarium betrat. Sophie schrie auf und duckte sich hinter einen der Pfeiler. Doch Tessa war zu schockiert, um auch nur einen Finger zu rühren. Die vier Automaten, die Mortmain flankierten, starrten reglos geradeaus; ihre glänzenden Gesichter wirkten wie Metallmasken. Hinter Mortmain drängte Nate in den Raum. Er trug einen behelfsmäßigen, blutbefleckten Verband um den Kopf, offensichtlich aus einem Stück Gewebe seines Hemds — Jems Hemd — gefertigt. Sein hasserfüllter Blick fiel auf Jessamine. »Du dummes Miststück«, knurrte er und marschierte auf die Schattenjägerin zu.

»Nathaniel!« Mortmains Stimme knallte wie eine Peitsche durch die kalte Luft und Nate erstarrte. »Jetzt ist nicht der Augenblick, um deine kleinlichen Rachegelüste zu befriedigen. Vorher wirst du noch etwas für mich erledigen — du weißt genau, wovon ich spreche. Also hole es.«

Nate zögerte und musterte Jessamine wie eine Katze, die eine Maus entdeckt hat.

»Nathaniel. Zur Waffenkammer. Sofort!«

Widerstrebend wandte Nate sich von Jessamine ab, und als sein Blick Tessa streifte, verwandelte sich der wütende Ausdruck auf seinem Gesicht in ein höhnisches Grinsen. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und stolzierte aus dem Raum. Gleichzeitig lösten sich zwei der Klockwerk-Kreaturen von Mortmains Seite und folgten ihm.

Als die Tür sich hinter ihnen schloss, breitete sich ein erfreutes Lächeln auf Mortmains Zügen aus. »Ihr zwei da«, sagte er und schaute von Jessamine zu Sophie, »verschwindet!«

»Nein.« Die dünne, aber störrische Stimme, die durch den Raum hallte, stammte von Sophie — obwohl auch Jessamine, zu Tessas Überraschung, keine Anstalten machte, das Sanktuarium zu verlassen.

»Nicht ohne Tessa«, fügte Sophie hinzu.

Mortmain zuckte die Achseln. »Wie ihr wollt«, erwiderte er gleichgültig und wandte sich an die Klockwerk-Kreaturen. »Schnappt euch die beiden«, befahl er. »Die Schattenjägerin und das Dienstmädchen. Tötet sie beide«, fügte er hinzu und schnippte ungeduldig mit den Fingern.