Dieser Ort war ein Schlachthaus. Lange Holztische erstreckten sich von Wand zu Wand. Und darauf lagen Leichname — menschliche, entkleidete, bleiche Leichname, mit einem tiefen, y-förmigen Einschnitt im Brustkorb. Die Köpfe der Toten baumelten über die Tischkanten und lange Frauenhaare streiften wie Besen über den Steinboden. Auf dem mittleren Tisch stapelten sich blutverschmierte Messer und Maschinenteile — Kupferzahnräder, Messinggetriebe und scharfe Metallsägen.
Entsetzt presste Tessa sich eine Hand in den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken, und schmeckte Blut, als sie sich in die eigenen Finger biss — was Will jedoch nicht zu bemerken schien. Mit aschfahlem Gesicht sah er sich um und murmelte irgendetwas vor sich hin, das Tessa aber nicht verstehen konnte. Plötzlich ertönte ein Krachen und die Metalltüren erbebten, als hätte sich etwas Schweres mit Wucht dagegengeworfen. Tessa ließ ihre blutende Hand sinken und schrie auf: »Mr Herondale!«
Will wirbelte herum, während die Metalltüren erneut bebten. Und dann drang eine Stimme von der anderen Seite zu ihnen: »Miss Gray! Wenn Sie jetzt herauskommen, werden wir Ihnen kein Haar krümmen!«
»Sie lügt«, warf Tessa rasch ein.
»Ach nein, wirklich?«, erwiderte Will sarkastisch, steckte sein glühendes Elbenlicht ein und sprang auf den mittleren Tisch mit den blutbespritzten Maschinenteilen. Dann bückte er sich, nahm ein schweres Messingzahnrad, wog es in der Hand und warf es mit einem angestrengten Ächzen in Richtung des hohen Fensters. Sekundenbruchteile später splitterte die Glasscheibe und Will rief mit erhobener Stimme:
»Henry! Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen! Henry!«
»Wer ist Henry?«, fragte Tessa, doch in diesem Moment erbebten die Türen ein drittes Mal und dünne Risse zeichneten sich im Metall ab. Die Türen würden nicht sehr viel länger standhalten. Tessa stürzte zum Tisch in der Raummitte und schnappte sich willkürlich eine Waffe — eine zerklüftete Metallsäge, mit der Metzger normalerweise Knochen durchtrennten. Es blieb ihr gerade noch Zeit, sich umzudrehen, als die Türen auch schon aufflogen.
Im Türrahmen standen die Dunklen Schwestern:
Mrs Dark in einem schimmernden hellgrünen Kleid, so lang und hager wie ein Rechen, und Mrs Black, mit hochrotem Gesicht und die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. Ein leuchtender Kranz aus blauen Funken umgab die beiden wie ein winziges Feuerwerk. Ihr Blick streifte Will, der noch immer auf dem Tisch stand und eine seiner eisklaren Klingen gezückt hatte, und wanderte dann zu Tessa. Mrs Blacks Mund, ein roter Schlitz in ihrem bleichen Gesicht, verzog sich zu einem Grinsen.
»Aber, aber, Miss Gray«, höhnte sie. »Sie hätten es nun wirklich besser wissen müssen: Wir haben Ihnen doch gesagt, was geschieht, falls Sie noch einmal zu fliehen versuchen ...«
»Dann tun Sie es von mir aus! Peitschen Sie mich aus. Schlagen Sie mich zu Tode. Es ist mir egal!«, schrie Tessa und stellte mit Genugtuung fest, dass die Dunklen Schwestern wenigstens ein bisschen verblüfft wirkten. Einen solchen Ausbruch hatten die beiden wohl nicht erwartet, denn bisher hatte Tessa sich immer viel zu sehr vor ihnen gefürchtet, um die Stimme gegen sie zu erheben. »Aber ich werde nicht zulassen, dass Sie mich dem Magister übergeben! Eher sterbe ich!«
»Welch unerwartet scharfe Zunge Sie doch haben, meine liebe Miss Gray«, erwiderte Mrs Black und streifte bedächtig den Handschuh von ihrer rechten Hand, sodass Tessa zum ersten Mal einen Blick darauf werfen konnte: Die Haut war grau und dick wie Elefantenleder und an den Fingerspitzen saßen lange dunkle Krallen, die scharf wie Messer wirkten. Mrs Black musterte Tessa mit einem starren Grinsen.
»Aber wenn wir Ihnen die Zunge aus Ihrem hübschen Köpfchen herausschneiden, lernen Sie vielleicht, sich anständig zu benehmen.«
Dann bewegte sie sich zielstrebig auf Tessa zu, wurde aber umgehend von Will gebremst, der vom Tisch heruntersprang, sich zwischen die beiden stellte und »Malik« rief. Sofort leuchtete die eisweiße Klinge in seiner Hand auf und strahlte wie eine Sternschnuppe.
»Geh mir aus dem Weg, kleiner NephilimKrieger«, fauchte Mrs Black. »Und nimm deine Seraphklingen mit. Dies ist nicht dein Kampf.«
»Da irren Sie sich.« Will kniff die Augen zusammen. »Ich habe schon so manches über Sie gehört, meine Damen. Gerüchte, die fließen wie ein Strom schwarzen Gifts durch die Schattenwelt. Man hat mir erzählt, dass Sie beide ein hübsches Sümmchen für menschliche Leichname zahlen und sich nicht viel darum scheren, wie diese Menschen ihr Leben verloren haben.«
»So viel Wirbel wegen ein paar toter Irdischer«, kicherte Mrs Dark und gesellte sich zu ihrer Schwester, woraufhin Will mit seinem flammenden Schwert einen Schritt zur Seite machte, um sich zwischen Tessa und den beiden Frauen zu postieren. »Wir haben nichts gegen dich, Schattenjäger, es sei denn, du legst es auf einen Streit an. Du bist in unser Territorium eingedrungen und hast damit gegen den Bündnisvertrag verstoßen. Wir könnten dich beim Rat anzeigen ...«
»Sosehr der Rat widerrechtliches Betreten auch missbilligt, so vertritt er sonderbarerweise eine noch viel schärfere Haltung gegenüber dem Enthaupten und Häuten von Personen. In dieser Hinsicht ist er wirklich ein wenig eigentümlich«, erwiderte Will.
»Personen?«, fauchte Mrs Dark. »Du meinst wohl Irdische. Die interessieren euch doch auch nicht mehr als uns.« Dann schaute sie Tessa an: »Hat er dir erzählt, wer er wirklich ist? Er ist kein menschliches Wesen.«
»Das sagen ausgerechnet Sie«, erwiderte Tessa mit zitternder Stimme.
»Und hat sie dir erzählt, wer sie ist?«, wandte Mrs Black sich an Will. »Hat sie dir von ihrer Begabung berichtet? Davon, wozu sie fähig ist?«
»Wenn ich eine Vermutung anstellen sollte, dann würde ich sagen: Es hat gewiss etwas mit dem Magister zu tun«, entgegnete Will.
Mrs Dark musterte ihn misstrauisch. »Du weißt von dem Magister?« Ihr Blick wanderte wieder zu Tessa.
»Ah, verstehe. Du weißt nur das, was sie dir erzählt hat. Der Magister, mein kleiner Engelsknabe, ist ein viel gefährlicherer Mann, als du dir jemals vorstellen kannst. Und er hat schon sehr lange auf jemanden mit Tessas Fähigkeiten gewartet. Man könnte sogar behaupten, er ist derjenige, der dafür gesorgt hat, dass sie überhaupt geboren wurde ...«
Der Rest ihrer Worte ging in einem kolossalen Getöse unter, als die gesamte Ostwand des Raums plötzlich in sich zusammenbrach. Der Anblick erinnerte Tessa an die Darstellungen vom Fall der Mauern Jerichos in ihrer alten Kinderbibeclass="underline" Wo vorher eine massive Wand gestanden hatte, klaffte nun eine riesige rechteckige Öffnung, aus der sich eine dicke Staubwolke durch den Raum wälzte.
Mrs Dark stieß einen spitzen Schrei aus und raffte mit knochigen Fingern ihre Röcke. Offenbar hatte sie ebenso wenig mit dem Einsturz der Mauer gerechnet wie Tessa.
Will packte Tessas Hand und zog sie an sich, um sie mit seinem Körper vor dem Hagel aus Steinen und Mörtel zu schützen, der auf sie herabprasselte. Als sich seine Arme um sie schlossen, konnte Tessa Mrs Black kreischen hören, und sie drehte den Kopf, um zu sehen, was passierte: Mrs Dark stand wie eine Statue da und zeigte mit einem behandschuhten, zitternden Finger auf das dunkle Loch in der Wand. Inzwischen hatte sich der Staub etwas gelegt und mehrere Schatten, die oberhalb des Trümmerhaufens aufgetaucht waren, nahmen nun Gestalt an: Die schemenhaften Konturen zweier Männer wurden sichtbar, jeder mit einer Klinge bewaffnet, die genau wie Wills Waffe ein seltsames, bläulich weißes Licht ausstrahlten. Engel, dachte Tessa verwundert, sprach ihren Gedanken aber nicht aus. Dieses strahlende Licht — wer oder was konnten die beiden sonst sein?