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»Will?«, rief er mit lauter Stimme. »Will, kannst du mich hören?« Als er keine Antwort erhielt, sprang er vom Kutschbock, nahm seinen Spazierstock an sich und wog ihn einen Moment in der Hand. Seine Gelenke hatten zu schmerzen begonnen, was ihm Sorge bereitete. Die nachlassende Wirkung des Dämonenpulvers kündete sich normalerweise durch Gelenkbrennen an - ein dumpfer Schmerz, der sich langsam ausbreitete, bis sein ganzer Körper in Flammen zu stehen schien. Aber er konnte sich diese Qualen jetzt nicht erlauben; er musste an Will denken und an Tessa. Vor seinem inneren Auge sah er sie vor sich auf den Stufen stehen, während er die Bibelworte zitierte. Sie hatte so besorgt gewirkt und der Gedanke, dass sie sich vielleicht um ihn sorgte, hatte ihm ein unerwartet warmes Gefühl bereitet.

Entschlossen wandte er sich von der Kutsche ab, um die Treppe hinaufzusteigen - und erstarrte. Jemand kam bereits die Stufen hinunter, allerdings mehr als nur eine Person ... eine ganze Gruppe! Sie standen im Licht der Eingangshalle, sodass Jem einen Moment blinzeln musste und nur Umrisse erkennen konnte. Ein paar der Silhouetten schienen seltsam missgestaltet.

»Jem!«, rief eine hohe, verzweifelte Stimme — eine vertraute Stimme.

Jessamine.

Wie elektrisiert stürmte Jem die untersten Stufen hinauf und hielt plötzlich abrupt inne. Vor ihm stand Nathaniel Gray, mit zerrissener blutbespritzter Kleidung. Er trug einen behelfsmäßigen Kopfverband, der an der rechten Schläfe dunkelrot schimmerte, und zog eine finstere Miene.

Zwei Klockwerk-Kreaturen flankierten ihn wie gehorsame Diener. Dahinter folgten zwei weitere Automaten, von denen einer Jessamine festhielt, die sich verzweifelt wehrte, während der andere Automat eine schlaffe, halb bewusstlose Gestalt hinter sich herschleifte — Sophie.

»Jem!«, schrie Jessamine auf. »Nate ist ein Lügner. Er hat die ganze Zeit mit Mortmain zusammengearbeitet — Mortmain ist der Magister, nicht de Quincey.«

Sofort wirbelte Nathaniel herum. »Bring sie zum Schweigen!«, schnauzte er den Klockwerk-Mann hinter sich an, dessen Metallarme sich daraufhin so fest um Jessamines Brustkorb spannten, dass die Schattenjägerin erst hustete und dann verstummte, während vor Schmerz sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht wich. Dennoch zeigte sie mit den Augen auf den Automaten rechts von Nathaniel.

Jem folgte ihrem Blick und sah, dass die Kreatur ein wohlbekanntes goldenes Gefäß in den Händen hielt — die Pyxis.

Als Nate den Ausdruck auf Jems Gesicht bemerkte, begann er, breit zu grinsen. »Niemand außer einem Schattenjäger kann sie berühren ... Das heißt, kein lebendes Wesen. Aber ein Automat ist auch kein Lebewesen.«

»Ist das etwa der Grund für diesen ganzen Aufstand?«, fragte Jem erstaunt. »Die Pyxis? Wozu könnte sie für euch von Nutzen sein?«

»Mein Gebieter wünscht Dämonenenergie — und die soll er bekommen!«, erwiderte Nate schwülstig.

»Und er wird niemals vergessen, dass ich derjenige war, der sie ihm besorgt hat.«

Jem schüttelte den Kopf. »Und wie wird er dich dann dafür entlohnen? Was hat er dir dafür gegeben, deine Schwester zu verraten? Dreißig Silberlinge?«

Wutentbrannt verzog Nate das Gesicht und einen Moment lang glaubte Jem, durch die oberflächlich attraktive Maske hindurch auf das schauen zu können, was sich darunter verbarg ... etwas so Bösartiges und Abstoßendes, dass Jem sich am liebsten umgedreht und übergeben hätte. »Dieses Ding«, stieß Nate hervor, »ist nicht meine Schwester.«

»Es fällt schwer zu glauben, dass du und Tessa überhaupt irgendetwas gemeinsam habt — und sei es auch nur ein einziger Tropfen Blut«, entgegnete Jem, der aus seiner Abscheu kein Hehl mehr machte.

»Tessa steht meilenweit über dir.«

Nathaniel kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.

»Sie interessiert mich nicht. Sie gehört dem Magister.«

»Ich weiß ja nicht, was Mortmain dir in Aussicht gestellt hat«, sagte Jem, »aber ich kann dir eines versprechen: Wenn du Jessamine oder Sophie auch nur ein Haar krümmst oder die Pyxis vom Gelände des Instituts entfernst, wird der Rat dich jagen. Und dich finden. Und dich töten.«

Langsam schüttelte Nathaniel den Kopf. »Du begreifst es nicht«, erwiderte er. »Keiner der Nephilim versteht es. Das Beste, was ihr mir zu bieten habt, ist die Zusage, mich am Leben zu lassen. Aber der Magister kann mir versprechen, dass ich unsterblich sein werde.« Und dann wandte er sich an den KlockwerkMann zu seiner Linken und befahl in eiskaltem Ton:

»Töte ihn.«

Sofort sprang der Automat auf Jem zu. Er war deutlich schneller als die Klockwerk-Männer, denen Jem auf der Blackfriars Bridge gegenübergestanden hatte. Es blieb ihm kaum Zeit, den Hebel für die Klinge am unteren Ende seines Spazierstocks zu betätigen und die Waffe zu erheben, als sich die Kreatur auch schon auf ihn stürzte. Doch im nächsten Moment quietschte sie wie ein stark bremsender Zug, da Jem ihr die Klinge tief in die Brust rammte und zickzackförmig hin und her bewegte, bis das Metall knirschend aufriss. Laut kreischend wirbelte die Kreatur herum, während aus ihrem Rumpf ein Feuerrad aus roten Funken sprühte.

Nate, der von einigen glühenden Teilchen getroffen wurde, schrie auf und schlug hektisch nach den Flammen, die ihm Löcher in die Kleidung brannten. Sofort nutzte Jem die Gelegenheit, sprang zwei Stufen hinauf und zog Nate die flache Seite seiner Klinge mit solcher Wucht über den Rücken, dass er in die Knie ging. Schmerzverzerrt drehte Nate sich zu seiner Klockwerk-Leibwache herum, doch die Kreatur taumelte funkensprühend die Stufen hinunter. Offenbar hatte Jem einen der Zentralmechanismen getroffen und außer Kraft gesetzt. Währenddessen stand der Automat mit der Pyxis in den Händen stumm da und rührte sich nicht von der Stelle — Nate zählte eindeutig nicht zu seinen Prioritäten.

»Lasst sie los! Und tötet den Schattenjäger! Tötet ihn, habt ihr mich verstanden?!«, brüllte Nate den Klockwerk-Männern zu, die Sophie und Jessamine noch immer festhielten und nun ruckartig fallen ließen.

Jessamine und Sophie stürzten zu Boden — keuchend und hustend, aber eindeutig noch am Leben. Allerdings währte Jems Erleichterung darüber nicht lange, da die beiden Automaten nun mit unglaublicher Geschwindigkeit auf ihn zustürmten. Wütend schlug er mit seinem Spazierstock nach einer der Kreaturen, doch diese wich mit einem Sprung zurück und brachte sich außer Reichweite, während die andere Kreatur eine Hand hob — genau genommen keine Hand, sondern einen rechteckigen Metallblock, dessen Kanten mit spitzen, scharfen Sägezähnen besetzt waren ... Plötzlich ertönte ein lauter Schrei hinter Jem — und im nächsten Moment stürmte Henry an ihm vorbei, einen schweren Säbel in der Hand. Mit einem gewaltigen Hieb ließ er die Klinge auf den erhobenen Arm der Kreatur niederkrachen und durchtrennte das Metall. Der Arm flog in hohem Bogen die Stufen hinunter, rutschte zischend und Funken sprühend über das Kopfsteinpflaster und ging dann in Flammen auf.

»Jem!«, hallte Charlottes Stimme warnend durch den Innenhof.

Hastig wirbelte Jem herum und sah, wie der andere Automat von hinten die Arme nach ihm ausstreckte. Mit einem Ruck rammte er dem Klockwerk-Mann die Klinge in die Kehle und durchtrennte die darin befindlichen Kupferröhren, während Charlotte ihm mit ihrer Peitsche die Beine wegfegte. Der Automat stieß ein hohes Pfeifen aus und brach krachend zusammen. Sofort schwang Charlotte ihre Peitsche ein weiteres Mal und vollendete ihr Werk mit grimmiger Miene. In der Zwischenzeit drehte Jem sich zu Henry um, dessen rote Haare ihm schweißgetränkt an der Stirn klebten. Langsam ließ er den Säbel sinken: Der Automat vor seinen Füßen bestand nur noch aus einem Haufen ölverschmiertem Metall.

Teile seines Klockwerk-Mechanismus lagen über den Innenhof verstreut und brannten leise vor sich hin, wie ein mit Sternschnuppen übersätes Feld. Jessamine und Sophie klammerten sich aneinander, wobei die Schattenjägerin das andere Mädchen stützte, an deren Hals dunkle Blutergüsse schimmerten. Über die Stufen hinweg trafen sich Jessamines und Jems Blicke und Jem hatte das Gefühl, dass dies womöglich das erste Mal war, dass sie über seine Anwesenheit aufrichtig erfreut schien.