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»Er ist fort«, sagte Jessamine nun. »Nathaniel ist verschwunden, mit dieser Kreatur — und der Pyxis.«

»Ich verstehe das alles nicht«, stammelte Charlotte mit bestürzter Miene. »Tessas Bruder ...«

»... hat uns belogen. Alles, was er uns erzählt hat, war eine Lüge«, erklärte Jessamine. »Die Geschichte mit de Quinceys Geheimversteck diente nur dazu, euch aus dem Institut fortzulocken.«

»Oh mein Gott«, flüsterte Charlotte. »Dann hat de Quincey also doch nicht gelogen ...« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie ihr Gehirn von Spinnweben befreien, um wieder klar denken zu können. »Als wir bei seinem Haus in Chelsea eintrafen, fanden wir nur eine Handvoll Vampire dort vor, höchstens sechs oder sieben — und ganz bestimmt nicht die Hundertschaften, vor denen Nathaniel uns gewarnt hatte. Und auch von den Klockwerk-Kreaturen war nirgends etwas zu sehen. Benedict hat de Quincey getötet, aber erst nachdem der Vampir uns ausgelacht hat, weil wir ihn als den Magister bezeichneten. Er meinte, wir hätten uns von Mortmain zum Narren machen lassen. Mortmain. 

Und ich dachte, er wäre nur ein ... ein ganz gewöhnlicher Irdischer.«

Henry ließ sich auf die oberste Treppenstufe sinken und legte den Säbel klirrend neben sich. »Das ist eine Katastrophe.«

»Will«, murmelte Charlotte benommen und wie in Trance. »Und Tessa. Wo sind die beiden?«

»Tessa ist im Sanktuarium. Zusammen mit Mortmain. Und Will ...« Jessamine schüttelte den Kopf.

»Ich wusste gar nicht, dass er zurück ist.«

»Will muss bereits drinnen sein«, erklärte Jem und schaute an der hohen Portalmauer hoch. Mit Sorge erinnerte er sich an seinen giftgeplagten Albtraum: das lichterloh brennende Institut, die schwere Rauchwolke über London und die gewaltigen KlockwerkKreaturen, die wie monströse Spinnen zwischen Häusern und Gebäuden hin und her staksten. »Er ist bestimmt auf der Suche nach Tessa«, fügte er hinzu. Aus Mortmains Gesicht war jede Farbe gewichen.

»Was tun Sie da?«, herrschte er Tessa an und marschierte auf sie zu.

Tessa platzierte die Messerspitze auf ihre Brust und drückte zu. Der scharfe, plötzliche Schmerz nahm ihr einen Moment lang die Luft und Blut breitete sich auf ihrem Mieder aus. »Keinen Schritt näher«, stieß sie atemlos hervor.

Mortmain hielt tatsächlich inne, musterte sie aber mit wutverzerrtem Gesicht. »Was verleitet Sie zu der Annahme, dass es mich interessieren würde, ob Sie leben oder sterben, Miss Gray?«

»Sie haben es selbst gesagt: Sie waren derjenige, der mich erschaffen hat«, erwiderte Tessa. »Sie wollten, dass es mich gibt, aus welchem Grund auch immer. Und Sie schätzten mein Wohlergehen hinreichend genug, um den Dunklen Schwestern zu untersagen, mir bleibenden Schaden zuzufügen. Aus irgendeinem Grund bin ich für Sie wichtig. Oh, natürlich nicht ich selbst, sondern meine Fähigkeit. Das ist das Einzige, was Sie interessiert.« Tessa spürte, wie ihr Blut warm und feucht an ihrem Körper hinablief— doch der Schmerz war nichts im Vergleich zu der Genugtuung, die sie empfand, als sie den Ausdruck der Furcht auf Mortmains Gesicht sah.

»Was wollen Sie von mir?«, stieß Mortmain zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Nein — was wollen Sie von mir? Los, verraten Sie es mir. Sagen Sie mir, warum Sie mich erschaffen haben. Sagen Sie mir, wer meine wahren Eltern sind. War meine Mutter wirklich meine leibliche Mutter? Und mein Vater tatsächlich mein Vater?«

Mortmain musterte sie mit einem verzerrten Lächeln. »Sie stellen die falschen Fragen, Miss Gray.«

»Warum bin ich ... so, wie ich bin? Und wieso ist Nate nur ein Mensch? Warum besitzt er nicht dieselben Eigenschaften wie ich?«

»Nathaniel ist nur Ihr Halbbruder. Er ist nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Mensch und noch dazu kein sonderlich beeindruckendes Exemplar der menschlichen Rasse. An Ihrer Stelle würde ich es nicht bedauern, dass Sie ihm nicht stärker ähneln.«

»Dann ...«, setzte Tessa an, verstummte aber. Ihr Herz pochte wie wild. »Meine Mutter kann keine Dämonin gewesen sein«, überlegte sie leise. »Und auch kein anderes übernatürliches Wesen. Denn Tante Harriet war ihre Schwester und sie war nur ein Mensch. Dann muss es also mein Vater gewesen sein ... War mein Vater ein Dämon?«

Mortmain grinste — ein plötzliches, hässliches Grinsen. »Legen Sie das Messer weg und ich beantworte Ihnen all Ihre Fragen. Vielleicht können wir das Ding ja sogar heraufbeschwören, das Sie gezeugt hat, wenn Sie so erpicht darauf sind, ihn kennenzulernen — oder sollte ich besser ›es‹ sagen?«

»Dann bin ich also eine Hexe«, brachte Tessa mit zugeschnürter Kehle hervor. »Ist es das, was Sie sagen wollen?«

Mortmains helle Augen maßen sie spöttisch.

»Wenn Sie darauf bestehen — ja, vermutlich ist dieses Wort die beste Beschreibung für das, was Sie sind.«

Plötzlich hörte Tessa wieder Magnus Banes klare Stimme in ihrem Kopf: »Oh doch, Sie sind eine Hexe.

Das kann ich Ihnen versichern.« Und dennoch ...

»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Tessa laut. »Meine Mutter hätte niemals ... nicht mit einem Dämon.«

»Sie hatte ja keine Ahnung.« Mortmain klang fast mitleidig. »Keine Ahnung, dass sie ihrem Mann untreu war.«

Tessa drehte sich der Magen um. Natürlich erzählte Mortmain ihr nichts, was sie nicht selbst auch schon in Erwägung gezogen hatte. Trotzdem war es etwas völlig anderes, ihre Befürchtungen nun bestätigt zu hören. »Wenn der Mann, den ich für meinen Vater gehalten habe, nicht mein Vater war, und mein richtiger Vater ein Dämon ... warum trage ich dann kein Mal, so wie jedes andere Lilithkind eines trägt?«, fragte sie.

Mortmains Augen funkelten vor Bosheit. »In der Tat, warum nicht? Vermutlich weil Ihre Mutter nicht wusste, was sie war — genauso wenig, wie Sie es bis vor Kurzem wussten.«

»Was soll das heißen? Meine Mutter war ein Mensch!«

Mortmain schüttelte den Kopf. »Miss Gray, Sie stellen noch immer die falschen Fragen. Sie müssen endlich begreifen, dass es umfangreicher Vorbereitungen bedurfte, damit Sie eines Tages auf die Welt kommen konnten. Und diese Planungen begannen bereits lange vor meiner Zeit — ich habe sie nur fortgeführt, in dem Wissen, dass ich die Schöpfung von etwas Einzigartigem beaufsichtigte. Von etwas Einzigartigem, das nur mir gehören würde. Denn ich wusste, dass ich Sie eines Tages heiraten und Sie dann mir gehören würden — für immer.«

Entsetzt starrte Tessa ihn an. »Aber wieso? Sie lieben mich doch gar nicht. Sie kennen mich nicht. Sie wussten ja noch nicht einmal, wie ich aussehe! Ich hätte auch vollkommen abstoßend sein können!«

»Das hätte keine Rolle gespielt. Sie können so abstoßend oder attraktiv erscheinen, wie Sie wollen. Das Gesicht, das Sie im Moment tragen, ist nur eines von tausend möglichen Gesichtern. Wann begreifen Sie endlich? Es gibt keine wahre Tessa Gray!«

»Hinaus!«, sagte Tessa.

Mortmain starrte sie aus seinen hellen Augen an.

»Was haben Sie gerade gesagt?«

»Hinaus. Verlassen Sie das Institut. Und nehmen Sie Ihre Monster mit. Oder ich werde mir dieses Messer ins Herz stoßen.«

Mortmain zögerte; seine Hände ballten und öffneten sich unentschlossen. So musste er früher in Momenten ausgesehen haben, in denen es blitzschnell eine geschäftliche Entscheidung zu treffen galt — kaufen oder verkaufen? Investieren oder expandieren? Mortmain war ein gewiefter Geschäftsmann und daran gewöhnt, eine Situation im Nu zu erfassen, überlegte Tessa. Und sie war nur ein Mädchen. Wie groß war da wohl die Wahrscheinlichkeit, dass es ihr gelingen würde, ihn auszumanövrieren?

Langsam schüttelte Mortmain den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Sie das wirklich tun werden. Sie mögen zwar eine Hexe sein, aber andererseits sind Sie immer noch ein junges Ding. Ein zartes weibliches Wesen.«