Er machte einen Schritt auf sie zu. »Gewalt liegt doch gar nicht in Ihrer Natur.«
Tessa umklammerte das Heft des Messers. Sie spürte nun jede Einzelheit — die harte, glatte Oberfläche des Griffs, die schmerzende Klingenspitze auf ihrer Haut, das rasende Pochen ihres eigenen Herzens.
»Kommen Sie ja nicht näher«, sagte sie mit zittriger Stimme, »oder ich bringe mich um. Ich werde mir das Messer in die Brust rammen.«
Das leichte Zittern in ihrer Stimme schien Mortmain Gewissheit zu verleihen. Ein entschlossener Zug zeichnete sich um seine Mundwinkel ab und er marschierte selbstsicher auf sie zu. »Nein, das werden Sie nicht.«
In dem Moment hörte Tessa Wills Stimme in ihrem Kopf. »Sie nahm lieber Gift, als in römische Gefangenschaft zu gehen. Sie war mutiger als alle Männer.«
»Oh doch«, sagte sie. »Das werde ich.«
Irgendetwas in ihrem Ausdruck musste sich verändert haben, denn aus Mortmains Gesicht verschwand schlagartig jegliche Selbstsicherheit. Seine Arroganz wich heller Panik und er stürzte verzweifelt auf sie zu, um ihr das Messer zu entwinden.
Blitzschnell kehrte Tessa Mortmain den Rücken zu und schaute zum Brunnen. Das silbern plätschernde Wasser, das hoch über ihr herabsprudelte, war das Letzte, was ihre Augen sahen. Dann rammte sie sich das Messer tief in die Brust.
Vollkommen außer Atem keuchte Will durch den dunklen Korridor, der zum Sanktuarium führte. Im Treppenhaus hatte er gegen zwei dieser KlockwerkKreaturen kämpfen müssen und schon befürchtet, sein letztes Stündlein habe geschlagen, als der erste Automat nach mehreren mächtigen Hieben mit Thomas’
Schwert plötzlich Funktionsstörungen zeigte und den anderen Klockwerk-Mann aus dem Fenster stieß, ehe er selbst zusammenbrach und in einem Wirbel aus splitterndem Metall und sprühenden Funken die Stufen hinabstürzte.
Das zerklüftete Metall der Kreatur hatte tiefe Schnittwunden an Wills Händen und Armen hinterlassen, doch er gönnte sich keine Pause, um eine Iratze aufzutragen. Dafür war jetzt keine Zeit. Noch im Lauf zückte er seine Stele, stürmte mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Tür des Sanktuariums zu und ließ die Spitze der Stele über die Holzoberfläche sausen — es war die schnellste Entriegelungsrune, die er je geschaffen hatte.
Fast lautlos glitt der Türriegel zurück. Will nahm sich einen Sekundenbruchteil Zeit, die Stele gegen eines seiner Seraphschwerter zu tauschen. »Jerahmeel«, wisperte er. Als die Klinge in einem weißen Blitz aufleuchtete, trat er die Türen zum Sanktuarium auf. Und erstarrte vor Entsetzen. Tessa lag zusammengekrümmt am Brunnen, dessen Wasser sich blutig verfärbt hatte. Das Oberteil ihres blau-weiß gestreiften Kleides schimmerte in leuchtendem Scharlachrot und unter ihrem Körper breitete sich eine gewaltige Blutlache aus. Neben ihrer erschlafften rechten Hand lag ein blutiges Messer mit blutverschmiertem Griff und ihre Augen waren geschlossen.
Mortmain kniete an Tessas Seite, eine Hand auf ihrer Schulter. Als er Will hereinstürmen hörte, hob er ruckartig den Kopf; dann rappelte er sich auf und wich von Tessas leblosem Körper zurück. Seine Hände leuchteten rot und auch Hemd und Mantel hatten große Mengen Blut abbekommen. »Ich ...«, setzte er an.
»Sie haben sie getötet«, sagte Will. Selbst in seinen eigenen Ohren klang seine Stimme merkwürdig und weit entfernt. Vor seinem inneren Auge sah er sich wieder in der Bibliothek seines Elternhauses ... seine Hände auf dem Kästchen, seine neugierigen Finger am Schnappverschluss ... Er hörte das Kreischen, das die Bibliothek im nächsten Moment erfüllt hatte, sah die Straße nach London, silbern glänzend im Mondlicht. Und er erinnerte sich wieder an die Worte, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen waren, während er sich mit jedem Schritt weiter und weiter von seinem Zuhause entfernt hatte: »Ich habe alles verloren. Alles verloren. Alles.«
»Nein.« Mortmain schüttelte den Kopf. Seine Finger fummelten an irgendetwas herum — an einem Silberring an seiner rechten Hand. »Ich habe ihr kein Haar gekrümmt. Das hat sie sich selbst angetan.«
»Sie lügen!«, stieß Will hervor und bewegte sich vorwärts; die Konturen der leuchtenden Seraphklinge in seiner Hand boten ihm ein beruhigendes und vertrautes Bild in einer Welt, die sich um ihn herum wie eine Traumlandschaft beständig zu verändern schien.
»Haben Sie auch nur eine Vorstellung davon, was passiert, wenn ich eines dieser Schwerter in menschliches Gewebe ramme?«, fragte er mit rauer Stimme und hob Jerahmeel. »Es ätzt sich durch die Muskelschichten. Sie werden unerträgliche Schmerzen erleiden, förmlich von innen nach außen verbrennen, ehe Sie endlich sterben.«
»Sie glauben, Sie würden um sie trauern, Will Herondale?«, brachte Mortmain gequält hervor. »Ihr Kummer wiegt nichts im Vergleich zu meinem: Jahre der Arbeit ... Träume ... Mühen ... mehr als Sie sich jemals vorstellen können ... alles umsonst.«
»Dann darf ich Sie trösten: Ihr Kummer wird nur von kurzer Dauer sein«, knurrte Will und stürzte sich mit ausgestreckter Waffe auf Mortmain. Er spürte, wie die Klinge das Gewebe von Mortmains Mantel streifte — dann aber auf keinerlei Widerstand mehr traf. Verwirrt taumelte er vorwärts, richtete sich auf und schaute sich verwundert um. Irgendetwas klimperte auf dem Boden vor ihm ... ein Messingknopf. Sein Schwert musste ihn von Mortmains Mantel abgetrennt haben. Der glänzende Knopf blinzelte ihm von den Steinplatten aus zu wie ein höhnisch blickendes Auge. Bestürzt ließ Will die Seraphklinge fallen, die mit einem Klirren auf dem Boden landete und dort weiterbrannte. Mortmain war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Er hatte sich verflüchtigt, wie ein Hexenmeister sich verflüchtigen würde — ein Hexenmeister mit jahrelanger Erfahrung in der Kunst der Magie. Aber dass ein Mensch, und sei es auch ein Mensch mit Kenntnissen des Okkulten, so etwas zustande bringen konnte ...
Doch das spielte nun keine Rolle, jedenfalls nicht in diesem Moment. Es gab nur eines, an das Will jetzt denken konnte: Tessa. Erfüllt von einer Mischung aus Furcht und Hoffnung lief er durch den Raum zum Brunnen. Das Quellwasser sprudelte mit einem widerlich beruhigenden Plätschern ins Becken, während Will sich niederkniete und Tessa in seine Arme hob. Er hielt sie, wie er sie nur ein einziges Mal gehalten hatte — auf dem Speicher, in jener Nacht, als sie de Quinceys Stadtvilla niedergebrannt hatten. Die Erinnerung an diesen Moment hatte sich oft genug in sein Gedächtnis gedrängt, doch nun stellte sie die reinste Qual dar. Tessas Kleid und Haare waren blutdurchtränkt und auch auf ihrem Gesicht klebte Blut. Will hatte genügend Verletzungen gesehen, um genau zu wissen, dass niemand einen derartigen Blutverlust überleben konnte.
»Tessa«, wisperte er. Dann presste er sie fest an sich — seine Handlungen spielten jetzt keine Rolle mehr — und begrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge, am Ansatz zwischen Kehle und Schulter. Ihre Haare, in denen das Blut bereits zu stocken begann, streiften seine Wange und er konnte das Schlagen ihres Pulses unter ihrer Haut spüren.
Will erstarrte. Ihr Puls? Sein Herz machte einen Sprung. Vorsichtig hielt er sie ein wenig von sich weg, um sie auf den Boden zu legen, und entdeckte in dem Moment, dass sie ihn aus großen grauen Augen anschaute.
»Will«, murmelte sie. »Bist du das wirklich?«
Eine Woge der Erleichterung erfasste ihn, die jedoch sofort einem Gefühl heißen Entsetzens wich:
Erst war Thomas vor seinen Augen gestorben und nun Tessa? Aber vielleicht konnte sie ja gerettet werden? Allerdings nicht mithilfe einer Iratze. Doch wie heilte man Schattenwesen? Dieses Wissen besaßen nur die Brüder der Stille. »Ein Verband«, stammelte Will, halb an sich selbst gerichtet. »Ich muss Verbandszeug holen.«
Er wollte gerade seinen Griff ein wenig lockern, als Tessa ihn am Handgelenk packte. »Will, du musst vorsichtig sein. Mortmain ... er ist der Magister. Er war hier ...«