Will spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte.
»Ganz ruhig ... schon deine Kräfte. Mortmain ist fort. Ich muss Hilfe holen ...«
»Nein.« Tessa verstärkte den Griff um sein Gelenk.
»Nein, das brauchst du nicht, Will. Es ist nicht mein Blut.«
»Was?«, fragte er und starrte sie sprachlos an. Vielleicht fantasierte sie ja bereits, überlegte er, aber ihre Hand und ihre Stimme schienen überraschend stark für jemanden, der eigentlich längst hätte tot sein müssen. »Was Mortmain dir auch angetan haben mag, Tessa, ich ...«
»Das war ich selbst«, erwiderte sie mit ihrer kleinen, festen Stimme. »Ich habe mir das selbst angetan, Will. Es war die einzige Möglichkeit, ihn zum Verlassen des Instituts zu bringen. Er hätte mich sonst niemals hier zurückgelassen. Nicht solange er davon überzeugt war, dass ich noch lebe.«
»Aber ...«
»Ich habe mich verwandelt. In dem Moment, in dem das Messer meine Haut durchbohrte, habe ich meine Gestalt gewandelt. Mortmain selbst hatte mich auf die Idee gebracht, als er mit seinen Künsten prahlte: Dass es nichts weiter als eine kleine List gewesen sei, ein simpler Taschenspielertrick. Und dass niemand damit rechnen würde.«
»Ich verstehe es nicht. Meinst du das Blut?«
Tessa nickte und auf ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Erleichterung und Freude darüber, dass sie Will von ihren Taten berichten konnte. »Die Dunklen Schwestern haben mich einmal gezwungen, die Gestalt einer Frau anzunehmen, die durch einen Pistolenschuss gestorben war. Und als ich mich in sie verwandelte, war ich plötzlich blutüberströmt ... von ihrem Blut überströmt. Hab ich dir das nie erzählt? Ich dachte, ich hätte ... aber das ist jetzt auch egal. Jedenfalls erinnerte ich mich an jene Frau und verwandelte mich in sie, nur einen winzigen Moment lang, und genau wie beim letzten Mal schoss mir das Blut aus allen Poren. Ich hatte mich von Mortmain abgewandt, damit er die Verwandlung nicht sehen konnte, und hab mich dann zusammengekrümmt, so als hätte ich mir das Messer wirklich in die Brust gerammt. Und tatsächlich sorgte die Wucht der Verwandlung ... der derartig schnell eingeleiteten Verwandlung dafür, dass ich in eine tiefe Ohnmacht fiel. Um mich herum wurde alles schwarz. Als Nächstes hörte ich, wie Mortmain meinen Namen rief. Da wusste ich, dass ich wieder aufgewacht sein und mich ganz still verhalten musste, um so zu tun, als sei ich tot. Wahrscheinlich wäre er mir im Nu auf die Schliche gekommen, wenn du nicht hereingeplatzt wärst.« Tessa schaute an sich herab und Will hätte schwören können, dass eine gewisse Genugtuung aus ihrer Stimme sprach, als sie verkündete: »Ich habe den Magister hereingelegt, Will! Das hätte ich niemals für möglich gehalten — er war sich seiner Überlegenheit so sicher. Aber dann erinnerte ich mich daran, was du über Boadicea gesagt hattest. Wenn deine Worte nicht gewesen wären, Will ...«
Lächelnd schaute sie zu ihm auf — und dieses Lächeln brach auch den letzten Rest seines Widerstands. Er hatte seine Deckung aufgegeben, als er Tessa für tot gehalten hatte ... und nun war keine Zeit mehr, den Schutzwall wieder aufzubauen. Hilflos zog er Tessa an sich. Und einen Moment lang klammerte sie sich fest an ihn, warm und lebendig in seinen Armen. Ihr Haar streifte seine Wange. Die Welt hatte ihre Farben zurückerhalten und er konnte wieder atmen. Und für die Dauer dieses Augenblicks atmete er tief ihren Duft ein — sie roch nach Salz, Blut, Tränen und Tessa. Als sie sich schließlich aus seiner Umarmung löste, strahlten ihre Augen. »Als ich deine Stimme hörte, dachte ich, es wäre nur ein Traum«, sagte sie. »Aber du bist real.« Ihr Blick wanderte suchend über sein Gesicht und das Ergebnis ließ sie lächeln. »Du bist real.«
Will öffnete den Mund. Die Worte waren da. Und er wollte sie gerade aussprechen, als er plötzlich von Entsetzen gepackt wurde — das Entsetzen eines Wanderers im Nebel, der nach kurzem Innehalten auf dem Weg schlagartig erkennen muss, dass ihn nur wenige Zentimeter von einem gähnenden Abgrund trennen. Die Art und Weise, wie Tessa ihn nun ansah ... sie konnte lesen, was in seinen Augen stand. Es musste dort deutlich geschrieben stehen, wie die Worte auf einer Buchseite. Er hatte keine Zeit ... keine Gelegenheit gehabt, es zu verbergen.
»Will«, wisperte Tessa. »Will, sag doch etwas.«
Doch es gab nichts zu sagen. In seinem Inneren war nur diese schreckliche Leere — so wie seit vielen Jahren zuvor und wie in alle Ewigkeit.
Ich habe alles verloren, dachte Will. Alles.
20
Ein Furcht Einflössendes Wunder
Rote Runenmale galten den Schattenjägern als Zeichen der Trauer — doch die Farbe des Todes war Weiß.
Tessa hatte dies nicht gewusst und auch nichts im Codex darüber gelesen. Daher beobachtete sie mit einiger Verblüffung vom Fenster der Bibliothek aus, wie die fünf Schattenjäger des Instituts aus dem Gebäude traten und die Trauerkutsche bestiegen — allesamt in Weiß gekleidet wie eine Hochzeitsgesellschaft. Bei der Ausräucherung von de Quinceys Vampirnest hatten mehrere Mitglieder der Brigade ihr Leben verloren und das Begräbnis fand nun in ihrem Namen statt, aber gleichzeitig wurden auch Thomas und Agatha zu Grabe getragen. Charlotte hatte Tessa erklärt, dass Nephilim-Bestattungen im Allgemeinen den Schattenjägern vorbehalten waren, aber in besonderen Fällen eine Ausnahme gemacht werden konnte für diejenigen, die in Ausübung ihres Dienstes für den Rat gestorben waren.
Andere Institutsbewohner durften dagegen nicht an der Totenfeier teilnehmen. Sophie hatte gegenüber Tessa geäußert, dass dies auch besser sei, weil sie ohnehin nicht zusehen wollte, wie Thomas verbrannt und seine Asche in der Stadt der Stille verstreut wurde. »Ich möchte ihn lieber so in Erinnerung behalten, wie ich ihn zuletzt gesehen habe ... und Gleiches gilt für Agatha«, hatte sie gemurmelt.
Die Brigade hatte eine Wache zurückgelassen — mehrere Schattenjäger, die sich freiwillig gemeldet hatten und nun das Institut sicherten. Es würde eine ganze Weile dauern, bis die Nephilim das Gebäude jemals wieder unbewacht ließen, überlegte Tessa. Sie hatte sich die Zeit bis zur Rückkehr der anderen mit Lesen vertrieben — allerdings nicht mit einer Lektüre, die mit den Nephilim oder mit Dämonen und Schattenweltlern zu tun hatte. Stattdessen hatte sie sich mit einer Ausgabe von Eine Geschichte aus zwei Städten, die sie zwischen Charlottes Sammlung von Dickens’ Werken gefunden hatte, in eines der Erkerfenster der Bibliothek zurückgezogen. Doch Tessa musste sich immer wieder zwingen, nicht an Mortmain zu denken, nicht an Thomas und Agatha oder an die Dinge, die Mortmain ihr gegenüber im Sanktuarium geäußert hatte. Und vor allem durfte sie nicht über Nathaniel nachdenken oder daran, wo er jetzt stecken mochte — jeder Gedanke an ihren Bruder schnürte ihr die Kehle zu und trieb ihr die Tränen in die Augen. Aber das war längst nicht alles, was sie beschäftigte: Zwei Tage zuvor hatte sie vor einer Abordnung der Nephilim-Gemeinschaft in der Institutsbibliothek erscheinen müssen. Ein Mann, den die anderen Schattenjäger als »Inquisitor« bezeichneten, hatte sie verhört und immer wieder Fragen zu dem Zeitraum gestellt, den sie mit Mortmain im Sanktuarium verbracht hatte — wieder und wieder, auf der Suche nach kleinsten Veränderungen im Ablauf ihrer Geschichte, bis Tessa schließlich vollkommen erschöpft war. Der Inquisitor hatte alles über die Taschenuhr wissen wollen, die Mortmain ihr aufzudrängen versucht hatte, und mehrfach nachgehakt, ob Tessa vielleicht wüsste, wem der Chronometer einst gehört habe oder wofür die Initialen J.T.S. stünden. Nein, sie wusste es nicht, und da Mortmain die Uhr bei seinem Verschwinden mitgenommen hatte, würde sich daran wahrscheinlich auch nichts ändern, hatte Tessa irgendwann spitz bemerkt.