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Der Inquisitor hatte auch Will verhört und ihn gefragt, was Mortmain vor seinem Verschwinden zu ihm gesagt habe. Will hatte die Vernehmung mit mürrischer Ungeduld ertragen und war schließlich mit einem Verweis wegen grober Unhöflichkeit und Gehorsamsverweigerung entlassen worden — was jedoch niemanden überraschte.

Der Inquisitor hatte sogar verlangt, dass Tessa ihre Kleidung ablegen sollte, damit man sie auf ein Lilithmal absuchen konnte, doch Charlotte hatte diesem Ansinnen rasch einen Riegel vorgeschoben. Als Tessa endlich hatte gehen dürfen, war sie Will in den Flur nachgeeilt, hatte ihn aber nicht mehr zu Gesicht bekommen. Seitdem waren zwei Tage vergangen und in dieser Zeit war sie ihm nur selten begegnet und hatte auch keine Gelegenheit gehabt, mehr als nur ein paar höfliche Worte in Gegenwart anderer mit ihm zu tauschen. Jedes Mal, wenn sie in seine Richtung gesehen hatte, hatte er sofort weggeschaut. Und wenn sie den Raum verlassen hatte, in der Hoffnung, er würde ihr folgen, war er einfach sitzen geblieben. Es war zum Verrücktwerden!

Natürlich fragte Tessa sich, ob sie vielleicht die Einzige sei, die glaubte, dass sich im Sanktuarium zwischen ihnen beiden etwas ganz Besonderes ereignet hatte. Sie war aus einer Ohnmacht erwacht, die schwärzer gewesen war als bei jeder anderen Verwandlung zuvor, und hatte sich in Wills Armen wiedergefunden. Aus seinen Augen hatte eine solch abgrundtiefe Verzweiflung gesprochen, wie sie es niemals für möglich gehalten hätte — und die Art und Weise, wie er ihren Namen gewispert und sie angesehen hatte, konnte doch nicht rein ihrer Fantasie entsprungen sein, oder?

Nein, Will lag etwas an ihr, so viel war sicher. Zugegeben, er hatte sich ihr gegenüber seit ihrer ersten Begegnung fast die ganze Zeit unhöflich benommen, aber andererseits war dies in Romanen gleichfalls an der Tagesordnung. Man musste sich doch nur einmal vor Augen führen, wie grob Darcy Elizabeth Bennet behandelt hatte, bevor er um ihre Hand anhielt — und im Grunde genommen sogar noch während seines Heiratsantrags. Und Heathcliff hatte sich Cathy gegenüber nie anders als unhöflich verhalten. Andererseits musste Tessa natürlich einräumen, dass in Dickens’ Eine Geschichte aus zwei Städten sowohl Sydney Carton als auch Charles Darnay immer sehr freundlich zu Lucie Manette gewesen waren. »Und doch gab ich der Schwäche nach und sie hat noch immer Macht über mich zu wünschen, dass Sie erfahren möchten, mit welcher plötzlichen Gewalt Sie den Aschenhaufen, der ich bin, in helle Lohe umgewandelt haben ...«

Das Beunruhigende an der ganzen Geschichte war die Tatsache, dass Will sie seit der Nacht im Sanktuarium kein einziges Mal mehr angesehen oder ihren Namen ausgesprochen hatte. Tessa glaubte, den Grund dafür zu kennen — die Art und Weise, wie Charlotte sie betrachtete und wie alle anderen in ihrer Gegenwart plötzlich verstummten, hatte sie darauf gebracht. Es war offensichtlich: Die Schattenjäger würden sie fortschicken.

Und warum sollten sie das auch nicht tun? Das Institut war für Nephilim bestimmt, nicht für Schattenwesen. In der kurzen Zeit, die sie nun schon im Institut weilte, hatte sie nichts als Tod und Zerstörung über die Nephilim gebracht — und Gott allein wusste, was noch geschehen würde, wenn sie blieb. Natürlich konnte sie sonst nirgends unterkommen und sich auch an niemand anderen wenden, aber warum sollten die Schattenjäger sich dafür interessieren? Gesetz war schließlich Gesetz und daran ließ sich nun mal nicht rütteln. Vielleicht würde sie am Ende ja doch noch mit Jessamine unter einem Dach landen, in irgendeinem Stadthaus in Belgravia. Es gab weiß Gott schlimmere Schicksale.

Das Rattern der Kutsche auf dem Kopfsteinpflaster im Innenhof riss Tessa aus ihren düsteren Gedankengängen: Die Schattenjäger waren aus der Stadt der Stille zurückgekehrt. Sophie eilte die Treppe hinunter, um sie an der Tür zu begrüßen, während Tessa durch das Fenster zusah, wie die fünf Nephilim der Reihe nach aus der Kutsche kletterten.

Henry legte einen Arm um Charlotte, die sich eng an ihn lehnte. Dann folgte Jessamine, mit einem hellen Blütenkranz in den blonden Haaren. Normalerweise hätte Tessa ihr Erscheinungsbild bewundert — wenn sie nicht insgeheim den Verdacht gehegt hätte, dass Jessamine Begräbnisse genoss, weil sie wusste, dass sie in Weiß ganz besonders hübsch wirkte. Als Nächster stieg Jem aus der Kutsche und schließlich Will. Die beiden sahen aus wie zwei Figuren aus einem seltsamen Schachspieclass="underline" Sowohl Jems silbernes Haar als auch Wills zerzauste schwarze Locken setzten sich deutlich von der hellen Kleidung ab. Weißer Ritter und schwarzer Ritter, dachte Tessa, während die beiden jungen Männer die Stufen hinaufstiegen und im Haus verschwanden.

Tessa hatte kaum ihr Buch auf die Sitzbank neben sich gelegt, als sich die Tür auch schon öffnete und Charlotte den Raum betrat — ganz darauf konzentriert, die langen Handschuhe abzustreifen. Ihr Hut war verschwunden und ihre braunen Haare umrahmten ihr kleines Gesicht in wild gekräuselten Locken.

»Ich habe mir schon gedacht, dass ich dich hier finden würde«, sagte sie, durchquerte den Raum und ließ sich gegenüber von Tessas Fensterbank in einen Sessel sinken. Müde warf sie die weißen Glacehandschuhe auf den kleinen Beistelltisch und seufzte.

»War es ...«, setzte Tessa an.

»Schrecklich? Ja. Ich hasse Begräbnisse, obwohl der Erzengel weiß, dass ich bereits an Dutzenden teilgenommen habe.« Charlotte schwieg einen Moment und biss sich auf die Lippe. »Jetzt klinge ich schon wie Jessamine. Vergiss einfach, was ich gesagt habe, Tessa. Verzicht und Tod sind Teil eines jeden Schattenjägerlebens und ich habe das seit jeher akzeptiert.«

»Ich weiß.« Eine seltsame Stille breitete sich aus und Tessa glaubte, ihr Herz dumpf und hohl schlagen zu hören, wie das Ticken einer Standuhr in einem großen, leeren Raum.

»Tessa ...«, begann Charlotte.

»Ich weiß, was du sagen willst, Charlotte, und es ist schon in Ordnung.«

Charlotte blinzelte verwirrt. »Du weißt ...? Und es ist in Ordnung?«

»Du möchtest, dass ich gehe«, erklärte Tessa. »Ich weiß, dass du vor dem Begräbnis eine Unterredung mit dem Rat hattest. Jem hat es mir erzählt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Nephilim es gutheißen würden, wenn du mir erlaubst zu bleiben. Nach all dem Schrecken und Kummer, den ich euch bereitet habe: Nate. Thomas und Agatha ...«

»Der Rat interessiert sich nicht für Thomas und Agatha.«

»Na, dann das Entwenden der Pyxis.«

»Das schon eher«, erwiderte Charlotte gedehnt.

»Tessa, ich glaube, du hast eine völlig falsche Vorstellung. Ich bin nicht gekommen, um dich zum Gehen aufzufordern. Ich möchte dich vielmehr bitten zu bleiben.«

»Zu bleiben?« Tessa hörte die Worte, doch sie ergaben für sie keine Bedeutung — Charlotte konnte sie unmöglich ernst gemeint haben. »Aber der Rat, die Schattenjäger ... Sie müssen doch schrecklich wütend sein ...«

»Oh ja, das sind sie auch«, bestätigte Charlotte.

»Aber auf Henry und mich. Wir haben uns von Mortmain täuschen lassen. Er hat uns benutzt und zu seinen Werkzeugen gemacht — und wir haben es ihm gestattet. Ich war so stolz auf mich, auf die kluge und geschickte Art, wie ich die Sache in die Hand genommen hatte. So stolz, dass es mir nie in den Sinn gekommen wäre, Mortmain könnte in Wahrheit die Fäden in der Hand halten. Und ich habe nicht eine Minute darüber nachgedacht, dass außer Mortmain und deinem Bruder niemand, aber auch wirklich niemand bestätigt hat, dass de Quincey der Magister war. Sämtliche ›Beweise‹ gründeten nur auf Indizien und dennoch habe ich mich überzeugen lassen.«

»Nun ja, die Hinweise waren schon sehr überzeugend«, versicherte Tessa Charlotte eilig. »Die Plakette in Mirandas Körper. Die Klockwerk-Kreaturen auf der Brücke.«

Charlotte schnaubte bitter. »Alles nur Figuren in einem Spiel, das Mortmain für uns inszeniert hat. Hast du gewusst, dass wir trotz größter Bemühungen keinen einzigen Hinweis darauf finden konnten, welche anderen Schattenwesen mit der Führung des Pandemonium Club befasst waren? Keines der irdischen Mitglieder hat auch nur die leiseste Ahnung. Und seit wir de Quinceys Clan vernichtet haben, misstrauen die Schattenweltler uns mehr denn je.«