»Aber es sind doch erst wenige Tage vergangen. Will hat sechs Wochen gebraucht, bis er die Dunklen Schwestern aufgestöbert hatte. Wenn ihr einfach weitersucht ...«
»So viel Zeit haben wir aber nicht. Wenn Nathaniel Jem gegenüber nicht gelogen hat und Mortmain tatsächlich beabsichtigt, die Dämonenenergie im Inneren der Pyxis zur Belebung seiner Klockwerk-Kreaturen zu verwenden, dann bleibt uns nur die Zeit, die er benötigt, um herauszufinden, wie man das Behältnis öffnet«, erklärte Charlotte und fügte dann achselzuckend hinzu: »Natürlich denkt der Rat, das sei unmöglich: Die Pyxis lässt sich nur mithilfe von Runen öffnen und Runen können nur von Schattenjägern gezeichnet werden. Aber andererseits hätte der Zugang zum Institut auch nur einem Schattenjäger möglich sein dürfen.«
»Mortmain ist sehr schlau.«
»Ja.« Charlotte hielt die Hände fest im Schoß verschränkt. »Hast du gewusst, dass Henry derjenige war, der Mortmain überhaupt von der Pyxis erzählt hat? Der ihm ihren Namen verraten hat und wozu sie dient?«
»Nein ...« Dieses Mal fielen Tessa beim besten Willen keine tröstenden Worte ein.
»Nein, das kannst du auch nicht. Niemand weiß davon. Nur ich und Henry. Er will, dass ich es dem Rat mitteile, aber das lehne ich ab. Die anderen behandeln ihn schon schlecht genug und ich ...« Charlottes Stimme zitterte, doch ihr kleines Gesicht wirkte entschlossen. »Der Rat ist dabei, einen Untersuchungsausschuss einzuberufen. Dabei wird meine — und Henrys — Leitung des Instituts auf den Prüfstand gestellt und anschließend darüber abgestimmt. Es ist durchaus möglich, dass wir das Institut verlieren.«
Tessa starrte sie entsetzt an. »Aber du führst das Institut doch großartig! So wie du alles und jeden organisierst und dich um alles kümmerst.«
Charlottes Augen glitzerten feucht. »Danke, Tessa. Aber Tatsache ist, dass Benedict Lightwood den Posten des Institutsleiters schon immer für sich selbst wollte ... oder für seinen Sohn. Die Lightwoods zeichnen sich durch großen Familienstolz aus und hassen es, von anderen Befehle entgegenzunehmen. Wenn nicht Konsul Wayland persönlich mich und meinen Ehemann zur Nachfolgerin meines Vaters ernannt hätte, dann säße jetzt Benedict auf diesem Stuhl, da bin ich mir sicher. Dabei habe ich mir nie etwas anderes gewünscht, als das Institut zu leiten, Tessa. Und ich will alles dafür tun, um diesen Posten zu behalten. Wenn du mir nur dabei helfen würdest ...«
»Ich? Aber was kann ich denn tun? Ich weiß doch überhaupt nichts über Schattenjägerpolitik.«
»Die Bündnisse, die wir mit Schattenweltlern schließen, zählen zu unseren wertvollsten Gütern, Tessa. Nur meine guten Verbindungen zu Hexenmeistern wie Magnus Bane und Vampiren wie Camille Belcourt sind der Grund dafür, warum ich noch Leiterin dieses Instituts bin. Und du ... du bist ein großer Gewinn für uns. Deine Fähigkeiten haben der Brigade schon einmal gute Dienste geleistet; die Unterstützung, die du uns zu bieten vermagst, könnte von unschätzbarem Wert sein. Und wenn bekannt würde, dass du auf meiner Seite stehst, würde mir das sehr helfen.«
Tessa zögerte. Vor ihrem inneren Auge sah sie Will, so wie er sie im Sanktuarium angeschaut hatte. Aber zu ihrer Überraschung war er nicht der Einzige, an den sie nun denken musste: Da waren auch noch Jem, mit seiner freundlichen Art und den sanften Händen, und Henry, der sie mit seiner exzentrischen Kleidung und den verrückten Erfindungen zum Lachen brachte, und sogar Jessamine, mit ihrer eigenartigen Wildheit und den gelegentlichen überraschenden Anflügen von Tapferkeit. »Aber das Gesetz ... was ist mit dem Gesetz?«, fragte sie mit dünner Stimme.
»Es gibt kein Gesetz, das untersagen würde, dich als unseren Gast weiter hierzubehalten«, erwiderte Charlotte. »Ich habe gründlich nachgeforscht und in unserem Archiv lässt sich nichts finden, das dich daran hindern würde zu bleiben ... falls du einverstanden bist. Also frage ich dich jetzt: Bist du einverstanden, Tessa? Wirst du bleiben?«
Tessa stürmte die Stufen zum Speicher hinauf. Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit war ihr fast leicht ums Herz. Der Dachboden sah noch genau so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte, und durch die hohen schmalen Fenster fielen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne.
Bis zum Einbruch der Dämmerung würde es nicht mehr lange dauern. Auf dem Fußboden lag ein umgestoßener Metallkübel, dem Tessa geschickt auswich, während sie zu der schmalen Stiege eilte, die aufs Dach hinaufführte.
»Wenn ihn etwas aufgewühlt hat, findet man ihn in der Regel dort oben«, hatte Charlotte gesagt. »Und ich habe Will selten so aufgewühlt erlebt. Der Tod von Thomas und Agatha hat ihn offenbar stärker mitgenommen, als ich gedacht hätte.«
Die Stiege endete in einer quadratischen Klapptür mit seitlichem Scharnier. Tessa stieß sie mit Schwung auf und kletterte hinaus auf das Dach des Instituts. Langsam richtete sie sich auf und schaute sich um. Sie stand in der Mitte eines breiten Flachdachs, das von einem hüfthohen schmiedeeisernen Geländer eingefasst war. Die Gitterstäbe des Geländers endeten in scharfen Spitzen, die an die fleur-de-lis, die französische Wappenlilie, erinnerten. Will lehnte am hinteren Ende des Dachs am Geländer. Er drehte sich nicht um — nicht einmal, als die Klapptür hinter Tessa mit einem Knall zufiel. Zögernd ging sie einen Schritt auf ihn zu und streifte ihre zerkratzten Hände am weichen Gewebe ihres Kleids ab. »Will«, sagte sie leise. Doch er reagierte nicht. Hinter ihm ging die Sonne in einem purpurroten Feuerball unter und am anderen Themseufer stießen hohe Fabrikschornsteine dicke Rauchwolken aus, die sich wie dunkle Finger über den roten Himmel ausbreiteten. Will lehnte schwer gegen das Geländer, als beabsichtigte er, sich nach vorn auf die speerartigen Gitterspitzen zu stürzen und seinem Leben ein Ende zu bereiten. Er schien Tessa nicht zu hören, die sich ihm nun vorsichtig näherte und neben ihm am Geländer stehen blieb. Von hier aus fiel das Dach steil ab und bot einen schwindelerregenden Blick auf das Kopfsteinpflaster im Innenhof des Instituts.
»Will«, sagte Tessa erneut. »Was machst du hier?«
Doch Will schaute sie noch immer nicht an. Er starrte hinaus über die Dächer der Stadt — eine schwarze Silhouette vor dem rötlichen Himmel. In der schmutzigen Luft zeichnete sich verschwommen die Kuppel der St. Paul’s Cathedral ab und tief unter ihr strömte die Themse wie ein breites Band aus dunklem, kräftigem Tee, das hier und dort von den schwarzen Konturen der Flussbrücken eingefasst wurde. Am Ufersaum wimmelten ein paar kleine Gestalten — Gassenjungen, die den an Land gespülten Unrat durchkämmten, auf der Suche nach Verwertbarem.
»Ich entsinne mich jetzt wieder«, sagte Will unvermittelt, den Blick noch ins Weite gerichtet. »Ich weiß jetzt, woran ich mich letztens zu erinnern versucht habe. Es war eine Zeile aus einem Gedicht von Blake. ›Und ich erblicke London, ein menschliches, Furcht einflößendes Wunder Gottes.‹« Nachdenklich starrte er auf das Häusermeer hinab. »Milton vertrat die Ansicht, die Hölle wäre eine Stadt. Aber meines Erachtens lag er damit nur teilweise richtig: Vielleicht ist London ja bloß der Eingang zur Hölle und wir sind die verdammten Seelen, die sich weigern, das Tor zu durchschreiten — aus Angst, dass wir auf der anderen Seite etwas vorfinden werden, das noch viel schlimmer ist als die Schrecken, die wir bereits kennen.«
»Will, was hast du?«, fragte Tessa bestürzt. »Was ist los?«
Der junge Schattenjäger umklammerte das Geländer mit beiden Händen, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Seine Haut war übersät mit Schnittwunden und Kratzern und seine Knöchel wirkten rau und aufgeplatzt. Auch sein Gesicht zeigte noch Kampfspuren: Dunkle Blutergüsse reihten sich vom Kiefer bis hinauf zu den Wangenknochen und seine Unterlippe war geplatzt und geschwollen. Aber er hatte nicht den geringsten Versuch unternommen, seine Wunden mit einer Iratze zu heilen — was Tessa überhaupt nicht verstehen konnte.