»Ich hätte es wissen müssen«, fuhr Will fort. »Ich hätte wissen müssen, dass es nur ein Trick war. Dass Mortmain gelogen hat, als er uns hier aufsuchte. Charlotte rühmt so oft meine taktischen Fähigkeiten, aber ein guter Taktiker hätte niemals blindlings vertraut. Ich war ein Narr.«
»Charlotte glaubt, dass das Ganze ihre Schuld ist. Henry denkt, es sei seine Schuld. Und ich bin davon überzeugt, dass es meine Schuld ist«, erwiderte Tessa ungeduldig. »Aber wir können uns nicht alle den Luxus erlauben, uns selbst die Schuld zu geben, oder?«
»Deine Schuld?« Will klang verwirrt. »Weil Mortmain von dir besessen ist? Das ist ja wohl kaum dein Verschulden ...«
»Weil ich Nathaniel hierher gebracht habe«, unterbrach Tessa ihn, wobei ihr die Worte die Brust zuzuschnüren schienen. »Weil ich euch gedrängt habe, ihm zu vertrauen.«
»Du hast ihn geliebt«, erklärte Will. »Er war dein Bruder.«
»Das ist er noch immer«, sagte Tessa. »Und ich liebe ihn noch immer. Aber jetzt weiß ich, wie er ist. Im Grunde habe ich das die ganze Zeit gewusst, es aber nicht wahrhaben wollen. Vermutlich belügen wir alle uns gelegentlich selbst.«
»Ja.« Will klang angespannt und distanziert. »Vermutlich.«
Tessa holte tief Luft und wechselte rasch das Thema: »Ich bin hier heraufgekommen, weil ich gute Neuigkeiten habe, Will. Soll ich dir nicht erzählen, worum es sich dabei handelt?«
»Erzähl es mir.« Seine Stimme wirkte tonlos.
»Charlotte sagt, dass ich hierbleiben kann«, verkündete Tessa. »Hier im Institut.«
Will schwieg.
»Sie sagt, dass kein Gesetz dagegen sprechen würde«, fuhr Tessa fort, nun ein wenig verwirrt. »Das heißt also, dass ich nicht fortzugehen brauche.«
»Charlotte hätte dich auf keinen Fall zum Gehen aufgefordert, Tessa. Sie kann es nicht einmal ertragen, eine Fliege in einem Spinnennetz zappeln zu sehen. Sie hätte dich niemals im Stich gelassen.« Wills Stimme klang leblos und ohne jedes Gefühl; er konstatierte lediglich eine Tatsache.
»Ich dachte ...«, Tessas Hochstimmung verflog.
»Ich dachte, du würdest dich wenigstens ein bisschen freuen. Ich dachte, wir würden Freunde werden.« Sie sah, wie sich sein Adamsapfel bewegte, als er ruckartig schluckte ... sah, wie seine Hände das Geländer noch fester umklammerten. »Als Freund ...«, fuhr sie gedehnt und mit gesenkter Stimme fort, »als Freund habe ich dich zu schätzen gelernt, Will. Als Freund bist du mir ans Herz gewachsen.« Vorsichtig streckte Tessa die Hand aus, um seine Finger zu berühren, zog sie aber hastig zurück, als sie seine angespannte Haltung sah und die weiß hervortretenden Knöchel seiner Hände. Die roten Trauermale stachen scharlachrot von der weißen Haut ab, als wären sie mit einem Messer eingeritzt worden. »Ich dachte, vielleicht ...«, stammelte sie.
Endlich sah Will sie direkt an. Der Ausdruck auf seinem Gesicht bestürzte Tessa zutiefst und die Schatten unter seinen Augen waren so dunkel, dass diese förmlich hohl wirkten.
Schweigend stand sie da und schaute ihn eindringlich an ... versuchte, ihm die Worte zu entlocken, die der Held in einem Roman jetzt gesagt hätte: Tessa, meine Gefühle für dich sind über die einer bloßen Freundschaft weit hinausgewachsen. Sie sind so viel stärker und kostbarer ...
»Komm her«, sagte Will stattdessen. Weder in seiner Stimme noch in seiner Haltung lag irgendetwas Einladendes. Tessa unterdrückte ihren ersten Impuls zurückzuweichen und bewegte sich vorsichtig vorwärts, bis sie so dicht vor ihm stand, dass er sie berühren konnte. Er streckte beide Hände aus und strich ihr die Locken aus dem Gesicht. »Tess.«
Tessa schaute zu ihm hoch. Seine Augen besaßen dieselbe Farbe wie der rauchverhangene Himmel und selbst sein zerschundenes Gesicht war wunderschön. Sie sehnte sich danach, ihn zu berühren, sehnte sich auf eine erwachende, instinktive Weise danach, die sie weder erklären noch kontrollieren konnte. Als er sich zu ihr hinabbeugte, um sie zu küssen, konnte sie sich gerade lange genug zurückhalten, bis seine Lippen ihre berührten. Sein Mund streifte ihren und sie schmeckte das Salz darauf, den scharfen Geschmack verletzter, empfindlicher Haut an der Stelle, an der seine Lippe aufgeplatzt war. Will nahm sie bei den Schultern und zog sie fester an sich; seine Finger gruben sich tief in den Stoff ihres Kleides. Und Tessa spürte wieder jenen Strudel der Gefühle, den sie bereits auf dem Speicher empfunden hatte, nur stärker dieses Mal — jene mächtige Woge, die sie zu überspülen drohte, die sie zu zerquetschen, zu zermalmen und zerreiben drohte, bis sie ganz weich war ... so wie das Meer eine Muschel zu Sand zermahlt.
Sie streckte die Hände aus, um seine Schultern zu berühren; doch er zog sich zurück und schaute auf sie hinab. Seine Atmung ging stoßweise, seine Augen leuchteten und seine Lippen wirkten rot und geschwollen — eine Folge seiner Verletzungen wie auch des Kusses.
»Vielleicht sollten wir dann jetzt darüber sprechen, welches Arrangement wir zu treffen gedenken«, sagte er.
Tessa, die noch immer das Gefühl hatte, jeden Moment zu ertrinken, wisperte: »Arrangement?«
»Wenn du hier im Institut bleibst, würde sich ein diskretes Vorgehen empfehlen«, erklärte Will. »Vielleicht wäre es am besten, wenn wir dein Zimmer nutzen. Jem neigt dazu, in meinem Zimmer ein und aus zu gehen, wie es ihm gefällt. Und er könnte sich wundern, wenn er die Tür eines Nachts verschlossen vorfinden würde. Deine Räumlichkeiten hingegen ...«
»Mein Zimmer nutzen?«, wiederholte Tessa.
»Wozu nutzen?« Will verzog den Mund zu einem Lächeln.
Tessa, die gerade noch die wundervoll geschwungenen Konturen seiner Lippen bewundert hatte, benötigte einen Moment, bis sie mit einem Gefühl seltsam distanzierter Überraschung erkannte, dass seinem Lächeln jegliche Wärme fehlte.
»Jetzt tu doch nicht so, als wüsstest du nicht, was ich meine ... So naiv kannst du nun wirklich nicht sein, Tessa. Nicht bei solch einem Bruder.«
»Will.« Tessa spürte, wie das warme Gefühl in ihrem Körper abebbte, so wie sich das Meer vom Ufer zurückzieht. Trotz der schwülen Sommerbrise wurde ihr kalt ums Herz. »Ich bin nicht wie mein Bruder.«
»Ich bedeute dir etwas und du weißt, dass ich dich bewundere ... so wie alle Frauen es wissen, wenn ein Mann sie bewundert«, erwiderte Will kühl und selbstsicher. »Und nun kommst du daher und erzählst mir, dass du hier im Institut bleiben wirst, für mich erreichbar sein wirst, so lange wie ich nur will ... Ich biete dir lediglich etwas an, von dem ich dachte, dass du es dir wünschst.«
»Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Und du kannst nicht ernsthaft geglaubt haben, dass ich etwas anderes gemeint hätte«, erwiderte Will. »Für Schattenjäger, die mit Hexenwesen herumtändeln, gibt es keine Zukunft. Man kann sie einstellen und sich sogar mit ihnen anfreunden, aber nicht ...«
»Heiraten?«, ergänzte Tessa. Inzwischen sah sie vor ihrem inneren Auge ein deutliches Bild: Das Meer hatte sich vollständig von der Küste zurückgezogen und sie konnte die kleinen Lebewesen erkennen, die nun zappelnd und zuckend auf dem nackten Sandboden lagen und qualvoll erstickten.
»Wie erfrischend unverblümt«, spöttelte Will. Am liebsten hätte Tessa ihm das Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. »Was hast du denn erwartet, Tessa?«
»Ich habe nicht erwartet, dass du mich derart beleidigen würdest.« Tessa spürte, wie ihre Stimme zu brechen drohte, doch irgendwie gelang es ihr, sie fest klingen zu lassen.
»Die unerwünschten Folgen einer Tändelei können nicht der Grund für deine Bedenken sein«, sinnierte Will. »Schließlich sind Hexenwesen nicht in der Lage, Kinder zu bekommen ...«