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»Was?«, brachte Tessa entsetzt hervor und wich zurück, als hätte er ihr einen Stoß versetzt. Der Boden unter ihren Füßen schien plötzlich zu schwanken. Will musterte sie. Mittlerweile war die Sonne fast vollständig hinter dem Horizont verschwunden. In der einbrechenden Dämmerung traten seine Wangenknochen deutlich hervor und die Falten an seinen Mundwinkeln waren so tief in seine Haut gegraben, als würde ihn ein körperlicher Schmerz zerreißen. Doch als er Tessas Frage endlich beantwortete, klang seine Stimme gleichmütig: »Hast du das denn nicht gewusst? Ich dachte, irgendjemand hätte es dir erzählt.«

»Nein«, sagte Tessa leise. »Davon hat mir niemand etwas erzählt.« Sein Blick streifte ruhig über ihr Gesicht. »Falls du also an meinem Angebot nicht interessiert bist ...«

»Hör auf!«, unterbrach Tessa ihn. Dieser Moment fühlte sich an wie die Kante einer Glasscherbe, dachte sie — klar und scharf und schmerzhaft. »Jem sagt, du würdest lügen, um dich in einem besonders üblen Licht dastehen zu lassen. Und vielleicht stimmt das ja auch oder er möchte das einfach nur von dir glauben. Aber es gibt keinen Grund und keine Entschuldigung für eine derartige Grausamkeit.«

Einen Augenblick lang wirkte Will aufrichtig betroffen, als hätte sie ihn ernsthaft erschreckt. Doch im nächsten Moment war der Ausdruck wieder verschwunden, wie die flüchtige Kontur einer Wolke am Himmel. »Dann bleibt mir wohl nichts mehr zu sagen übrig, oder?«, meinte er.

Ohne ihn auch noch eines Wortes zu würdigen, machte Tessa auf dem Absatz kehrt und marschierte zur Stiege, die hinunter zum Dachboden führte. Und da sie sich nicht mehr nach ihm umschaute, entging ihr, wie er ihr hinterherblickte — eine reglose schwarze Gestalt vor der verlöschenden Glut des rötlichen Abendhimmels.

»Liliths Kinder, auch als Hexenwesen bezeichnet, sind genau wie Maultiere und ähnliche Mischlinge unfruchtbar. Sie können keine Nachkommen hervorbringen. Eventuelle Ausnahmen von dieser Regel wurden bisher nicht verzeichnet ...«

Tessa schaute vom Codex auf und starrte aus dem Fenster des Musikzimmers, obwohl es draußen bereits zu dunkel war, um noch irgendetwas erkennen zu können. Sie hatte sich in diesen Raum geflüchtet, weil sie nicht in ihr eigenes Zimmer zurückkehren wollte, wo Sophie oder — schlimmer noch — Charlotte sie schließlich niedergeschlagen vorfinden würden. Die dünne Staubschicht auf den Möbeln des Musikraums schenkten ihr die beruhigende Gewissheit, dass man sie hier nicht so schnell suchen würde.

Sie fragte sich, wie ihr eine solch wichtige Tatsache über Hexenwesen bisher hatte entgehen können. Zugegeben, diese Informationen hatten nicht im Abschnitt über Hexenwesen gestanden, sondern im hinteren Anhang zum Thema Schattenwelt-Mischlinge wie Halb-Elben und Halb-Werwölfe. Aber offenbar gab es keine Halb-Hexen oder Halb-Hexenmeister. Hexenwesen konnten keine Kinder bekommen. Dann hatte Will also nicht gelogen, um sie zu verletzen — er hatte die Wahrheit gesagt. Was in gewisser Hinsicht noch viel schlimmer war. Er musste gewusst haben, dass seine Worte ihr nicht nur einen leichten Schock versetzen würden, der sich mühelos beseitigen ließ, sondern sie bis ins Mark treffen würden.

Aber vielleicht hatte er ja recht. Was hatte sie sich denn auch sonst vorgestellt? Will war Will und sie hätte kein anderes Verhalten von ihm erwarten dürfen. Sophie hatte sie gewarnt, aber sie hatte nicht auf sie gehört. Und Tessa wusste nur zu gut, was Tante Harriet über Mädchen gesagt hätte, die nicht hören wollten und einen gut gemeinten Ratschlag in den Wind schlugen.

Ein schwaches Rascheln riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Tessa drehte sich um, konnte zunächst aber nichts erkennen. Das einzige Licht im Raum stammte von einem Elbenlicht in einem Kerzenhalter, der neben ihr auf einem Beistelltisch stand. Der flackernde Lichtschein zeichnete tanzende Schatten auf die wuchtigen Umrisse des Klaviers und die mit schweren Tüchern abgedeckten Harfen. Während Tessa in die Dunkelheit starrte, lösten sich zwei helle Lichtpunkte vom Boden, die in einem seltsamen Grüngelb schimmerten. Sie bewegten sich auf sie zu, beide in der derselben Geschwindigkeit, wie Zwillings-Irrlichter. Tessa starrte wie gebannt darauf, atmete dann aber erleichtert auf. Natürlich. Sie beugte sich zum Boden hinab und rief lockend: »Komm, Kätzchen. Komm zu mir!«

Doch das Miauen der Katze ging im Quietschen der Tür unter, die in diesem Moment aufschwang. Grelles Licht strömte in den Raum und einen Augenblick lang war nur eine schemenhafte Gestalt im Türrahmen auszumachen. »Tessa? Tessa, bist du das?«

Tessa erkannte die Stimme sofort — die Worte ähnelten so sehr jenen ersten Worten, die er ihr gegenüber geäußert hatte, in jener Nacht, als sie wie in Trance sein Zimmer betreten hatte: Will? Will, bist du das? 

»Jem«, seufzte sie resigniert. »Ja, ich bin’s. Deine Katze ist hier hereinspaziert.«

»Ich kann nicht behaupten, dass mich das überraschen würde.« Jem klang amüsiert.

Tessa konnte ihn nun deutlich erkennen, da helles Elbenlicht aus dem Korridor in das Musikzimmer fiel. Sogar die Katze war jetzt klar zu sehen: Das Tier saß auf dem Boden und putzte sich mit einer Pfote das Gesicht. Irgendwie schien es verärgert, so wie alle Perserkatzen immer leicht missgestimmt wirkten.

»Ich glaube, er ist ein kleiner Herumtreiber. Es scheint fast, als bestünde er darauf, allen im Haus vorgestellt zu werden ...«, erklärte Jem, verstummte dann aber, als er Tessas Gesicht sah. »Was ist passiert?«, fragte er besorgt.

Tessa war derart überrumpelt, dass sie nur stottern konnte: »W-wieso fragst du mich das?«

»Ich kann es an deinem Gesicht ablesen. Irgendetwas ist vorgefallen.« Jem setzte sich ihr gegenüber auf den Klavierhocker. »Charlotte hat mir die gute Neuigkeit mitgeteilt«, sagte er, während der Kater sich erhob und durch den Raum zu Jem schlenderte. »Oder zumindest dachte ich, es sei eine gute Neuigkeit. Freust du dich denn nicht?«

»Natürlich freue ich mich.«

»Hm.« Jem wirkte nicht besonders überzeugt. Er beugte sich vor und hielt dem Kater die Hand entgegen, der sofort näher kam und seinen Kopf an Jems Fingern rieb. »So ist es brav, Church«, lobte er das Tier.

»Church? Ist das der Name deiner Katze?«, fragte Tessa amüsiert — trotz ihres Kummers. »Du meine Güte, war diese Mieze nicht eine von Mrs Darks Gefährten oder so etwas Ähnliches? Vielleicht ist Church nicht gerade ein passender Name für sie!«

»Für ihn. Die Mieze ist ein er«, berichtigte Jem sie in gespielter Empörung. »Außerdem war der Kater kein Gefährte, sondern eine arme Kreatur, die Mrs Dark im Rahmen ihres Totenbeschwörungszaubers zu opfern gedachte. Charlotte redet ständig davon, dass wir ihn behalten sollten, weil es angeblich Glück bringt, eine Katze in der Kirche zu haben. Also haben wir ihn einfach den ›Kirchenkater‹ genannt ... und daraus wurde dann schließlich Church«, erklärte Jem achselzuckend. »Und wenn dieser Name dazu beiträgt, dass er nicht in Schwierigkeiten gerät, umso besser.«

»Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er mich auf eine überhebliche Weise mustert.«

»Gut möglich. Katzen betrachten sich generell als allen anderen überlegen.« Jem kraulte Church hinter den Ohren. »Was liest du denn da?«

Tessa zeigte ihm den Codex. »Will hat ihn mir gegeben ...«

Jem streckte die Hände aus und zog den Wälzer so rasch auf seinen Schoß, dass Tessa keine Zeit blieb, ihren Finger wegzunehmen. Das Buch war noch genau auf der Seite aufgeschlagen, die sie gelesen hatte. Jem warf einen Blick auf den Textabschnitt und sah dann Tessa wieder an, wobei sich sein Gesichtsausdruck veränderte. »Hast du das wirklich nicht gewusst?«, fragte er teilnahmsvoll.

Tessa schüttelte den Kopf. »Es geht gar nicht darum, dass ich davon geträumt hätte, eines Tages Kinder zu bekommen«, erklärte sie. »So weit voraus habe ich nie gedacht. Aber dieser Umstand erscheint mir als eine weitere Eigenschaft, die mich von der Menschheit trennt. Etwas, das mich zu einer Monstrosität macht ... anders als alle anderen.«