Mrs Black kreischte erneut schrill auf und stürzte sich mit ausgestreckten Händen, aus denen blaue, explodierende Funken flogen, auf die beiden Gestalten. Tessa hörte, wie jemand einen Schrei ausstieß — einen sehr menschlichen Schrei. Gleichzeitig gab Will sie frei, wirbelte herum und schleuderte sein hell brennendes Schwert in Mrs Blacks Richtung. Die Klinge drehte sich kopfüber um die eigene Achse und bohrte sich tief in ihre Brust. Die Dunkle Schwester schrie auf und zuckte, taumelte rückwärts und fiel krachend auf einen der grässlichen Metzgertische, der in einer Wolke aus aufspritzendem Blut und splitterndem Holz unter ihr zusammenbrach.
Will grinste — allerdings kein freundliches Grinsen. Dann drehte er sich zu Tessa um und sie schauten sich über den Raum hinweg einen kurzen Moment schweigend in die Augen. Sekundenbruchteile später stürmten die beiden Gefährten zu ihm — zwei Männer in eng sitzenden dunklen Anzügen, die sich mit ihren flammenden Waffen so schnell bewegten, dass Tessa das Gefühl hatte, ihre Sicht würde verschwimmen. Sofort wich Tessa zur anderen Wand zurück, um dem Tumult in der Raummitte zu entgehen, wo Mrs Dark wüste Verwünschungen ausstieß und ihre Angreifer mit den brennenden Funken auf Abstand hielt, die sie wie einen feurigen Regen aus ihren Fingern schleuderte. Unterdessen wand Mrs Black sich auf dem Boden. Schwarze Rauchfahnen stiegen aus ihrem Körper auf, als würde sie von innen schwelen. Langsam bewegte Tessa sich auf die offene Tür zu, die zum Gang führte, als zwei kräftige Hände sie packten und zurückrissen. Tessa schrie auf und wehrte sich verzweifelt, doch die Hände, die ihre Oberarme festhielten, waren stark wie Eisen. Entschlossen drehte sie den Kopf zur Seite und schlug ihre Zähne in die Hand, die ihren linken Arm umklammerte. Im nächsten Moment stieß jemand einen Schrei aus und gab sie frei. Als Tessa herumwirbelte, sah sie einen Mann mit einem wirren kupferroten Haarschopf, der sie mit vorwurfsvollem Blick musterte und sich die blutende linke Hand hielt.
»Will!«, rief er. »Will, sie hat mich gebissen!«
»Tatsächlich, Henry?« Wie ein heraufbeschworener Flaschengeist tauchte Will aus dem Chaos von Rauch und Flammen auf und wirkte wie üblich äußerst amüsiert.
Hinter ihm konnte Tessa nun den zweiten seiner Gefährten erkennen: einen muskulösen, braunhaarigen jungen Mann, der die strampelnde Mrs Dark festhielt. Mrs Black war nur noch eine dunkle, bucklige Gestalt auf dem Boden.
Mit hochgezogenen Augenbrauen wandte Will sich an Tessa: »Es gilt als äußerst unhöflich, andere zu beißen«, teilte er ihr mit. »Alles andere als damenhaft. Hat Ihnen das noch niemand gesagt?«
»Und es gilt als ebenso unhöflich, nach jungen Damen zu grapschen, denen man noch nicht einmal vorgestellt wurde«, entgegnete Tessa förmlich. »Hat Ihnen das noch niemand gesagt?«
Der rothaarige Mann, den Will mit »Henry« angesprochen hatte, schüttelte seine blutende Hand und lächelte reumütig. Er hatte ein freundliches Gesicht, dachte Tessa und bekam fast schon ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn gebissen hatte.
»Will! Pass auf?«, brüllte der Mann mit den braunen Haaren plötzlich. Sofort fuhr Will herum, als auch schon etwas Schweres durch die Luft flog, Henrys Kopf knapp verfehlte und hinter Tessa gegen die Mauer knallte: Ein großes Messingzahnrad, das mit solcher Wucht auf die Wand auftraf, dass es darin stecken blieb wie eine Murmel in einem Teigstück. Tessa wirbelte herum und sah, dass Mrs Black auf sie zustürzte. Ihre fiebrigen Augen wirkten wie feurige Kohlestücke in dem faltigen weißen Gesicht und schwarze Flammen züngelten um den Schwertgriff herum, der aus ihrer Brust herausragte.
»Verdammt ...« Will griff nach dem Heft einer weiteren Klinge in seinem Ledergurt. »Ich dachte, wir hätten dieses Ding erledigt ...«
Mrs Black fletschte die Zähne und machte einen Satz. Will sprang geschickt zur Seite, aber Henry war nicht schnell genug. Die Dunkle Schwester packte ihn, sodass er rückwärts zu Boden ging, und klammerte sich wie eine Zecke an ihn. Fauchend grub sie ihm ihre langen Krallen in die Schultern, woraufhin Henry vor Schmerz aufschrie. Will hatte inzwischen die Waffe gezückt und hoch über den Kopf gehoben. Als er »Uriel!« brüllte, leuchtete das Schwert in seiner Hand auf wie eine brennende Fackel. Tessa taumelte rückwärts gegen die Wand, während er die Klinge durch die Luft sausen ließ. Mrs Black bäumte sich auf, streckte die ausgefahrenen Krallen nach ihm aus ... Doch die Klinge durchschnitt ihr die Kehle: Ihr sauber abgetrennter Kopf fiel herab und rollte über den Boden, während Henry angewidert aufschrie, die Überreste von Mrs Blacks Körper fluchend von sich stieß und hektisch auf die Beine kam, über und über mit schwarzem, dickflüssigem Blut besudelt.
Im nächsten Moment hallte ein ohrenbetäubender Schrei durch den Raum: »NEEEEIIIINNNN!«
Blaue Flammen schlugen aus Mrs Darks Händen und Augen und der braunhaarige Mann, der sie festhielt, musste sie ruckartig freigeben. Mit schmerzverzerrtem Gesicht fiel er zur Seite, während die Dunkle Schwester auf Will und Tessa zustürmte. Ihre Augen funkelten wie schwarze Fackeln und sie zischte etwas in einer Sprache, die Tessa noch nie gehört hatte — die Worte klangen wie das Knistern von Feuer. Dann hob Mrs Dark eine Hand und schleuderte einen blauen Blitz in Tessas Richtung. Mit einem wütenden Schrei sprang Will vor Tessa, das glühende Schwert weit vor sich ausgestreckt. Der Blitz prallte von der Klinge ab und schlug krachend in eine der Steinmauern ein, die daraufhin in einem seltsamen Licht jäh aufleuchtete.
»Henry«, rief Will, ohne sich umzudrehen, »wenn du Miss Gray bitte an einen sicheren Ort bringen könntest — und zwar bald ...«
Henry legte Tessa gerade eine Hand auf die Schulter, als Mrs Dark einen weiteren Lichtstrahl nach ihr schleuderte. Warum versucht sie, mich zu töten?, überlegte Tessa benommen. Warum mich und nicht Will? Und dann, als Henry sie zu sich heranzog, prallte ein noch stärkerer Blitz von Wills Schwert ab und zerteilte sich in ein Dutzend grell strahlender Lichtzungen. Wie gebannt starrte Tessa auf die unwirkliche Schönheit dieser Lichterscheinung — doch als sie Henrys Stimme hörte, der ihr zubrüllte, sie solle sich auf den Boden werfen, kam seine Warnung zu spät: Eine der lodernden Lichtscherben hatte sich bereits mit unglaublicher Kraft in ihre Schulter gebohrt. Tessa hatte das Gefühl, von einem rasenden Zug überrollt zu werden. Die Wucht riss sie von Henry fort, hob sie in die Höhe und ließ sie rückwärts gegen die Mauer prallen, wobei ihr Kopf mit brutaler Gewalt gegen die Steine schlug. Tessa konnte gerade noch Mrs Darks hohes keckerndes Gelächter hören — dann verlor sie das Bewusstsein und um sie herum wurde alles schwarz.
3
Das Institut
In ihrem Traum war Tessa erneut an das schmale Messingbett im Dunklen Haus gefesselt. Die Schwestern beugten sich über sie, klapperten mit langen Stricknadeln und lachten mit hoher, schriller Stimme.
Dann verwandelten sie vor Tessas Augen ihre Gestalt:
Die Augen verschwanden in den Höhlen, die Haare fielen aus und über den Mündern erschienen schwarze Kreuzstiche, die die Lippen zusammennähten. Tessa schrie auf doch sie schienen sie nicht zu hören.
Danach verschwanden die Schwestern und Tante Harriet beugte sich über Tessa. Ihr Gesicht wirkte fiebrig rot, so wie während ihrer schrecklichen Krankheit, die sie schließlich das Leben gekostet hatte. Mit einem Ausdruck großer Trauer betrachtete sie Tessa. »Ich habe es versucht«, sagte sie. »Ich habe wirklich versucht, dich zu lieben. Aber es ist nicht einfach, ein Kind zu lieben, das nichts Menschliches an sich hat ...«