Выбрать главу

»Nichts Menschliches?«, fragte eine unbekannte Frauenstimme. »Aber wenn sie kein Mensch ist, Enoch, was ist sie dann?« Im nächsten Moment schlich sich Ungeduld in die Stimme. »Was soll das heißen, du weißt es nicht? jeder ist doch irgendetwas.

Dieses Mädchen kann doch nicht nichts sein ...«

Tessa erwachte mit einem Schrei. Sie riss die Augen auf und musste feststellen, dass um sie herum tiefe Dunkelheit herrschte. In ihrer Panik nahm sie nur ein leises Stimmengewirr wahr, das aus den Schatten zu ihr drang. Fieberhaft strampelte sie sich frei, stieß Decken und Kissen von sich und setzte sich auf, wobei ihr Unterbewusstsein nur halb registrierte, dass die Decke dick und schwer war — ganz im Gegensatz zu der dünnen, mit Litze besetzten Bettdecke im Dunklen Haus.

Angestrengt blinzelte Tessa in die Dunkelheit: Sie befand sich in einem Bett, genau wie sie geträumt hatte. Und der große Raum mit den Steinmauern, in dem das Bett stand, war kaum beleuchtet. Sie konnte das Rasseln ihres eigenen Atems hören, als sie sich umdrehte, doch im nächsten Moment entfuhr ihrer Kehle ein Schrei: Ein Gesicht wie aus ihrem Albtraum schwebte in der Dunkelheit direkt vor ihr — ein großes weißes Mondgesicht, mit kahl geschorenem Schädel, der wie Marmor glänzte. An der Stelle, wo sich die Augäpfel hätten befinden müssen, waren nur Höhlen zu erkennen — allerdings erweckten sie nicht den Eindruck, als wären die Augen aus dem Schädel herausgerissen worden. Es hatte vielmehr den Anschein, als hätten sie sich erst gar nicht entwickelt. Die Lippen des Mondgesichts waren mit schwarzen Nähten verschlossen und die gesamte Haut schien mit schwarzen Zeichnungen übersät zu sein, vergleichbar denen auf Wills Armen und Brust. Im Gegensatz zu dessen Malen wirkten sie jedoch, als wären sie mit einer Klinge in die Gesichtszüge geritzt worden. Tessa schrie erneut auf und krabbelte hastig rückwärts, bis sie vom Bett rutschte. Als sie auf den kalten Steinboden auftraf und sich aufzurappeln versuchte, riss der Saum des Nachthemds, das ihr jemand übergestreift haben musste, während sie bewusstlos war.

»Miss Gray.« Jemand rief ihren Namen, doch in ihrer Panik registrierte sie lediglich, dass ihr die Stimme unbekannt war — und dass sie nicht von der monströsen Gestalt stammte, die sie von der Bettstatt aus mit reglosem Narbengesicht musterte. Das Monster hatte sich noch keinen Millimeter bewegt, aber obwohl es nicht den Anschein erweckte, als wolle es ihr nachsetzen, wich Tessa weiter vorsichtig zurück und tastete suchend nach einer Tür. Das Zimmer war so dunkel, dass sie nur eine ovale Raumform ausmachen konnte, mit Wänden aus Stein. Die Zimmerdecke lag in tiefen Schatten und an der gegenüberliegenden Wand befanden sich hohe, schmale Fenster, deren Umrisse an gotische Kirchenfenster erinnerten. Durch die Spitzbogenscheiben fiel kaum Licht; es schien, als wäre die Nacht bereits hereingebrochen.

»Theresa Gray ...«

Endlich fand Tessa die Tür, griff dankbar nach dem Knauf, wirbelte herum und zog daran. Doch nichts geschah. Die Erkenntnis, dass sie wieder eingesperrt war, ließ einen Schluchzer in ihrer Kehle aufsteigen.

»Miss Gray!«, wiederholte die Stimme und plötzlich wurde der Raum in helles Licht getaucht — ein grelles silbrig weißes Licht, das Tessa sofort wiedererkannte. »Miss Gray, bitte entschuldigen Sie. Es war nicht unsere Absicht, Ihnen Angst einzujagen.« Die Stimme stammte von einer Frau, die Tessa zwar noch immer unbekannt war, dafür aber jugendlich und besorgt klang. »Miss Gray, bitte.«

Langsam drehte Tessa sich um, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und schaute sich um. Der Raum, in dem sie sich befand, wurde von einem großen Himmelbett beherrscht, dessen Samtüberwurf nun zerknautscht war und halb auf dem Boden hing. Die Vorhänge des Betts waren zurückgezogen und auf dem ansonsten nackten Steinboden lag ein schmaler, eleganter Bettvorleger. Im Grunde wirkte der gesamte Raum ziemlich kahl. An den Wänden hingen weder Gemälde noch Fotografien und auch die dunklen Holzmöbel waren schlicht und elegant gehalten. Zwei Sessel und ein kleiner Tisch luden neben dem Bett zum Sitzen ein und ein Paravent in einer Ecke des Raums schirmte den dahinter befindlichen Badezuber und Waschtisch ab.

Vor dem Bett ragte ein großer Mann in einer Art bodenlanger Mönchskutte auf, die aus einem groben pergamentfarbenen Stoff geschneidert war und an den Ärmeln und am Saum blutrote Runen aufwies. Der Mann hielt einen silbernen Stab in der Hand, dessen Kopf eine Engelsgestalt zierte und dessen Schaft über und über mit weiteren Runen dekoriert war. Da der Mann die Kapuze seiner Robe nach hinten geschlagen hatte, konnte Tessa sein weißes, von Narben übersätes Gesicht mit den blinden Augenhöhlen sehen.

Neben ihm stand eine sehr kleine, fast kindlich wirkende Frau mit dichtem braunem Haar, welches im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst war, und einem netten, klugen Gesichtchen, in dem dunkle, intelligente Augen funkelten. Sie war zwar keine erklärte Schönheit, aber auf ihrem Antlitz lag ein ruhiger, freundlicher Ausdruck, der das panische Gefühl in Tessas Magen ein wenig besänftigte — obwohl sie nicht genau sagen konnte, wieso. In der Hand der Frau leuchtete einer jener weiß glühenden Steine, die Tessa bereits bei Will gesehen hatte. Helle Lichtstrahlen bahnten sich einen Weg zwischen ihren Fingern hindurch und beleuchteten den Raum.

»Miss Gray«, sagte die Frau nun. »Ich bin Charlotte Branwell, Leiterin des Londoner Instituts, und dies hier ist Bruder Enoch ...«

»Was für eine Art Monster ist er?«, wisperte Tessa. Bruder Enoch schwieg und zeigte nicht die geringste Gefühlsregung.

»Ich weiß, dass es auf der Erde Monster gibt«, fuhr Tessa stockend fort. »Versuchen Sie nicht, mir etwas anderes zu erzählen. Denn ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.«

»Es käme mir gar nicht in den Sinn, Ihnen etwas anderes erzählen zu wollen«, erwiderte Mrs Branwell.

»Wenn es auf der Welt nicht vor Monstern wimmeln würde, bestünde überhaupt kein Bedarf nach Schattenjägern.«

Schattenjäger. Mit genau diesem Begriff hatten die Dunklen Schwestern Will Herondale bezeichnet.

Will. »Ich war ... Will war bei mir«, stammelte Tessa mit zittriger Stimme. »In diesem Keller. Will meinte ...« Abrupt hielt sie inne und zuckte innerlich zusammen. Sie hätte Will nicht bei seinem Vornamen nennen dürfen — es implizierte eine Vertrautheit zwischen ihnen beiden, die es in Wahrheit nicht gab. »Wo ist Mr Herondale?«

»Er ist hier«, erklärte Mrs Branwell ruhig. »Hier im Institut.«

»Hat er mich hierher gebracht?«, flüsterte Tessa enttäuscht.

»Ja, aber es besteht überhaupt kein Grund, sich hintergangen zu fühlen, Miss Gray. Sie hatten einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen und Will war um Ihre Gesundheit besorgt. Bruder Enoch hier, dessen Erscheinungsbild Sie erschrecken mag, ist ein erfahrener Heiler. Er hat festgestellt, dass Ihre Kopfverletzung glücklicherweise nur geringfügiger Natur ist und dass Sie in erster Linie unter Schock stehen und von einer nervösen Unruhe ergriffen sind. Tatsächlich wäre es vermutlich das Beste, wenn Sie sich wieder setzen würden. Wenn Sie weiterhin mit bloßen Füßen an der Tür herumstehen, holen Sie sich letztendlich nur eine Verkühlung.«

»Sie meinen: Weil ich sowieso nicht fliehen kann«, sagte Tessa und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich kann nicht entkommen.«

»Wenn Sie darauf bestehen zu entkommen — wie Sie es formulieren —, werde ich Sie selbstverständlich gehen lassen, sobald wir uns unterhalten haben«, erklärte Mrs Branwell. »Die Nephilim halten Schattenweltler nicht gegen ihren Willen fest. Das untersagt das Abkommen.«

»Das Abkommen?«

Mrs Branwell zögerte einen Augenblick, wandte sich dann an Bruder Enoch und flüsterte ihm mit leiser Stimme etwas zu. Zu Tessas großer Erleichterung zog sich der Mann daraufhin die Kapuze seiner pergamentfarbenen Robe über den Kopf, sodass sein Gesicht verborgen wurde. Doch dann trat er auf Tessa zu, die sich hastig entfernte. Der Mann öffnete die Tür und hielt einen kurzen Moment inne — und während dieses winzigen Augenblicks sprach er zu Tessa. Oder vielleicht war sprechen nicht der richtige Ausdruck dafür: Tessa hörte seine Stimme in ihrem Kopf. »Sie sind ein Eidolon, Theresa Gray. Eine Gestaltwandlerin. Aber keine von der Sorte, die ich kenne. Denn Sie tragen kein Dämonenmal.«