Gestaltwandler. Er wusste, was sie war. Sprachlos und mit rasendem Pulsschlag sah sie ihm nach, während er den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog. Tessa spürte instinktiv, dass sie die Tür erneut verriegelt vorfinden würde, falls sie sie zu öffnen versuchte. Aber der Drang zur Flucht hatte sie verlassen. Ihre Knie fühlten sich an wie aus Gummi und sie ließ sich in einen der ausladenden Sessel neben dem Bett sinken.
»Was ist passiert?«, fragte Mrs Branwell und nahm im Sessel gegenüber Platz. Ihr Kleid fiel sehr weit, sodass sich nicht sagen ließ, ob sie ein Korsett darunter trug, und ihre Handgelenke waren kaum dicker als die eines Kindes. »Was hat er gesagt?«
Tessa schüttelte den Kopf und verschränkte die Hände im Schoß, damit Mrs Branwell nicht bemerkte, wie sehr ihre Finger zitterten.
Mrs Branwell musterte sie aufmerksam. »Zunächst einmal nennen Sie mich bitte ›Charlotte‹, Miss Gray. Alle im Institut nennen mich so. Wir Schattenjäger sind weniger förmlich als die meisten Menschen«, sagte sie.
Tessa nickte und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Es fiel ihr schwer, Charlottes Alter einzuschätzen — sie war so klein, dass sie einerseits sehr jung aussah. Aber andererseits verströmte sie so viel Autorität, dass sie wiederum älter wirkte — und zwar so viel älter, dass es Tessa recht merkwürdig erschien, sie bei ihrem Vornamen anzureden. Aber wie hatte Tante Harriet immer zu sagen gepflegt: Andere Länder, andere Sitten ... »Charlotte«, murmelte Tessa versuchsweise.
Als Mrs Branwell — Charlotte — sich lächelnd im Sessel zurücklehnte, entdeckte Tessa überrascht, dass sie dunkle Tätowierungen besaß — eine Frau mit Tätowierungen! Die Zeichnungen ähnelten den Abbildungen auf Wills Haut: schwarze Tuschemale, die unter den eng anliegenden Ärmelenden des Kleides herausschauten, sowie eine augenähnliche Tätowierung auf dem linken Handrücken. »Als Nächstes lassen Sie mich Ihnen bitte erzählen, was ich bereits über Sie weiß, Theresa Gray.« Charlotte sprach weiterhin in ruhigem, freundlichem Ton, doch ihre Augen musterten Tessa eindringlich. »Sie sind Amerikanerin und Sie sind von New York nach London gekommen, um Ihrem Bruder zu folgen. Ihrem Bruder Nathaniel, der Ihnen einen Fahrschein für die Überfahrt auf einem Ozeandampfer geschickt hat.«
Tessa saß wie erstarrt. »Woher wissen Sie das alles?«
»Ich weiß weiterhin, dass Will Sie im Haus der Dunklen Schwestern gefunden hat«, fuhr Charlotte fort. »Ich weiß, dass Sie Will gegenüber erklärt haben, ein sogenannter ›Magister‹ wolle Sie abholen. Ich weiß, dass Sie nicht die geringste Ahnung haben, wer dieser Magister ist. Und ich weiß, dass Sie während des Kampfes mit den Dunklen Schwestern das Bewusstsein verloren haben und hierher gebracht wurden.«
Charlottes Worte wirkten auf Tessa wie ein Schlüssel zu einer verschlossenen Tür: Plötzlich erinnerte sie sich wieder an den Abend ... an die Flucht durch den Korridor, an die Metalltüren und den dahinterliegenden, blutgetränkten Raum, an Will, der seine Klinge schwang, an Mrs Black und ihren abgetrennten Kopf ... »Mrs Black«, wisperte Tessa.
»... ist tot«, bestätigte Charlotte. »Ganz ohne Zweifel.« Sie lehnte sich mit den Schultern an die Rückenlehne des Sessels, die hinter ihr so hoch aufragte, dass sie wie ein Kind auf einem Stuhl für Erwachsene wirkte.
»Und Mrs Dark?«
»Hat sich in Luft aufgelöst. Wir haben das ganze Haus durchsucht und anschließend die umliegenden Straßen, aber sie blieb spurlos verschwunden.«
»Das ganze Haus?«, wiederholte Tessa mit leicht brüchiger Stimme. »Und es war niemand dort? Niemand sonst ...? Auch kein Toter ...?«
»Wir haben Ihren Bruder nicht finden können, Miss Gray«, erklärte Charlotte sanft. »Weder im Haus noch in den umliegenden Gebäuden.«
»Sie ... Sie haben nach ihm gesucht?«, fragte Tessa verwirrt.
»Wir haben ihn nicht finden können«, sagte Charlotte erneut. »Aber dafür haben wir Ihre Briefe entdeckt.«
»Meine Briefe?«
»Die Briefe, die Sie an Ihren Bruder verfasst, aber nie gesendet haben«, erklärte Charlotte. »Diejenigen, die unter Ihrer Matratze versteckt lagen.«
»Sie haben sie gelesen?«
»Es blieb uns nichts anderes übrig«, erwiderte Charlotte weiterhin freundlich. »Ich bitte aufrichtig um Verzeihung, aber es kommt nicht oft vor, dass wir ein Schattenwesen ins Institut bringen oder irgendjemanden, der kein Schattenjäger ist. Denn dies birgt für uns ein großes Risiko. Wir mussten uns einfach vergewissern, dass Sie keine Gefahr darstellen.«
Tessa wandte den Kopf ab. Dieser Eingriff in ihre Privatsphäre hatte etwas zutiefst Verletzendes an sich — die Vorstellung, dass diese Fremde ihre geheimsten Gedanken gelesen hatte, all ihre Träume, Hoffnungen und Ängste, die sie niedergeschrieben hatte, ohne damit zu rechnen, dass irgendjemand sie je zu Gesicht bekommen würde. Heiße Tränen brannten in Tessas Augen, doch sie unterdrückte sie eisern, wütend auf sich selbst, wütend auf die ganze Welt.
»Sie versuchen, nicht zu weinen«, konstatierte Charlotte. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es in solchen Situationen helfen kann, direkt in helles Licht zu schauen. Versuchen Sie es doch einmal mit dem Elbenlicht.«
Tessa schaute zu dem Stein in Charlottes Hand und starrte in das Licht, das sich vor ihren Augen wie eine anschwellende Sonne auszudehnen schien. »Nun gut«, sagte sie schließlich, um den Kloß im Hals zu bekämpfen, »Sie sind also zu dem Schluss gekommen, dass ich keine Gefahr darstelle?«
»Möglicherweise nur für sich selbst«, erwiderte Charlotte. »Eine Kraft wie die Ihre ... die Kraft zur Gestaltwandlung ... es ist nicht weiter verwunderlich, dass die Dunklen Schwestern Sie in ihre Gewalt bekommen wollten. Und andere werden folgen.«
»Wie Sie beispielsweise?«, sagte Tessa. »Oder wollen Sie mir weismachen, dass Sie mich aus reiner Nächstenliebe in Ihr geheiligtes Institut gebracht haben?«
Ein tiefverletzter Ausdruck huschte über Charlottes Gesicht, zwar nur kurz, aber er wirkte aufrichtig. Und dies überzeugte Tessa mehr als jede mögliche Beteuerung der jungen Frau davon, dass sie sich in ihr vielleicht doch getäuscht hatte. »Nicht aus Nächstenliebe«, widersprach Charlotte. »Es ist vielmehr meine Berufung. Unsere Berufung.«
Tessa schaute sie verständnislos an.
»Vielleicht wäre es besser, wenn ich Ihnen einfach erklären würde, wer wir sind — und was wir tun«, meinte Charlotte.
»Nephilim«, sagte Tessa. »Mit diesem Begriff haben die Dunklen Schwestern Mr Herondale bezeichnet.« Dann zeigte sie auf die dunklen Male auf Charlottes Hand. »Und Sie sind ebenfalls eine Nephilim, stimmt’s? Ist das der Grund, weshalb Sie diese ... diese Male tragen?«
Charlotte nickte. »Ja, ich bin eine der Nephilim, der Schattenjäger. Wir sind ... eine Gruppe von Leuten ... eine Gruppe von Leuten mit besonderen Fähigkeiten, wenn Sie so wollen. Wir sind stärker und schneller als die meisten Menschen. Wir sind in der Lage, uns unsichtbar zu machen, mithilfe einer besonderen Form der Magie namens Zauberglanz. Und wir wurden speziell dafür ausgebildet, Dämonen zu töten.«
»Dämonen? Sie meinen so wie der Teufel?«
»Dämonen sind bösartige Kreaturen. Und sie überwinden gewaltige Entfernungen, um in unsere Welt zu gelangen und sie zu verschlingen. Wenn es uns nicht gäbe, würden sie die Erde in Schutt und Asche legen und sämtliche Bewohner vernichten.« Charlottes Stimme klang fest und entschlossen. »So wie es die Aufgabe der menschlichen Polizei ist, die Bürger dieser Stadt voreinander zu schützen, ist es unsere Aufgabe, sie vor Dämonen und anderen übernatürlichen Gefahren zu bewahren. Wenn ein Verbrechen begangen wurde, das die Verborgene Welt betrifft ... wenn gegen die Gesetze unserer Welt verstoßen wurde, müssen wir ermitteln. Wir sind gesetzlich dazu verpflichtet. Wir müssen sogar dann Nachforschungen anstellen, wenn nur der Verdacht besteht, dass der Bündnisvertrag gebrochen wurde. Will hat Ihnen ja bereits von dem jungen Mädchen erzählt, das er in dieser Gasse gefunden hat. Sie war zwar die einzige Tote, deren Leichnam tatsächlich gefunden wurde, doch es gehen düstere Gerüchte um, dass irdische Jungen und Mädchen aus den Straßen von Londons ärmeren Vierteln über Nacht spurlos verschwinden. Die Verwendung von Magie zum Töten von Menschen verstößt gegen das Gesetz und fällt daher in unseren Zuständigkeitsbereich.«