»Mr Herondale erscheint mir erstaunlich jung für einen Polizeibeamten.«
»Schattenjäger werden schnell erwachsen und Will hat seine Ermittlungstätigkeit nicht allein durchgeführt.« Charlotte klang, als wollte sie diese Erklärung nicht vertiefen. »Aber das ist längst nicht alles, was zu unserem Aufgabenbereich gehört. Wir schützen außerdem den Bündnisvertrag und wahren das Abkommen — jene Gesetze, die den Frieden zwischen den Schattenweltlern sichern.«
Auch dieses Wort hatte Will verwendet, erinnerte Tessa sich. »Schattenwelt? Ist das ein Ort?«
»Ein Schattenweltler ist ein Lebewesen — eine Person, die teilweise übernatürlicher Herkunft ist. Vampire, Werwölfe, Feenwesen, Hexenmeister — das alles sind Schattenweltler.«
Tessa starrte Charlotte verständnislos an. Feen waren Wesen aus Kindermärchen und Vampire zählten zu den Figuren aus Groschenromanen. »Diese Kreaturen gibt es wirklich?«
»Sie selbst sind ein Schattenwesen«, erwiderte Charlotte. »Das hat Bruder Enoch bestätigt. Wir wissen nur noch nicht, zu welcher Sorte Sie gehören. Denn eines müssen Sie wissen: Die Art von Magie, zu der Sie in der Lage sind — Ihre Fähigkeit —, zählt nicht zu den Dingen, die normale Menschen vollbringen könnten. Und auch wir Schattenjäger sind dessen nicht mächtig. Will vermutete, dass Sie sehr wahrscheinlich eine Hexe sind — eine Annahme, zu der auch ich tendiert hätte. Aber alle Hexenwesen besitzen besondere Körpermerkmale, die sie als eben diese Wesen kennzeichnen: Flügel, Hufe, Schwimmhäute oder, wie Sie in Mrs Blacks Fall gesehen haben, Krallen oder Klauen an den Fingern. Doch Sie sind in Ihrem Äußeren durch und durch menschlich. Und aus Ihren Briefen geht hervor, dass Sie der Überzeugung sind, Ihre beiden Eltern wären ebenfalls rein menschlicher Natur gewesen.«
»Menschlich?« Tessa starrte Charlotte an. »Warum sollten sie etwas anderes als Menschen gewesen sein?«
Doch ehe Charlotte antworten konnte, wurde die Tür geöffnet und ein schlankes, dunkelhaariges Mädchen mit einer weißen Haube und einer adretten Schürze kam herein. In den Händen hielt sie ein Tablett mit Tee, das sie auf dem Tisch zwischen Charlotte und Tessa abstellte.
»Danke, Sophie«, sagte Charlotte, offensichtlich erleichtert, das Mädchen zu sehen. »Dies hier ist Miss Gray. Sie wird heute Abend unser Gast sein.«
Sophie richtete sich auf, wandte sich Tessa zu, machte einen raschen Knicks und murmelte: »Miss.«
Doch Tessa registrierte gar nicht, dass das Dienstmädchen vor ihr geknickst hatte, denn im selben Moment hob Sophie den Kopf und Tessa konnte einen Blick auf ihr Gesicht werfen. Das Mädchen musste einst sehr hübsch gewesen sein — mit leuchtend haselnussbraunen Augen, glatter Haut, weichen Lippen und einer feinen Gesichtsform. Doch nun erstreckte sich von der Schläfe bis zum linken Mundwinkel eine wulstige, silbern schimmernde Narbe, die das Gesicht zur Seite zog und die Züge des Mädchens zu einer grotesken Maske verzerrte. Tessa versuchte, ihr Entsetzen zu kaschieren, aber als sie sah, wie sich Sophies Augen verdüsterten, wusste sie, dass ihr dies nicht gelungen war.
»Sophie«, fuhr Charlotte nun fort, »hast du das dunkelrote Kleid schon heraufgebracht, so wie ich es dir aufgetragen habe? Kannst du es bitte aufbürsten und für Miss Gray bereitlegen?« Als das Dienstmädchen nickte und zum Kleiderschrank ging, wandte sie sich wieder an Tessa. »Ich habe mir erlaubt, eines von Jessamines alten Kleidern für Sie umarbeiten zu lassen. Die Kleidung, die Sie am Körper trugen, war vollkommen ruiniert.«
»Verbindlichsten Dank«, erwiderte Tessa förmlich. Sie hasste es, jemandem zu Dank verpflichtet zu sein. Die Dunklen Schwestern hatten ständig vorgegeben, ihr einen Gefallen zu erweisen — und nun sah man ja, wozu das geführt hatte.
»Miss Gray.« Charlotte musterte Tessa ernst.
»Schattenjäger und Schattenweltler sind keine Feinde. Unser Abkommen mag zwar unter einem schwierigen Stern stehen, aber es ist meine feste Überzeugung, dass Schattenwesen vertrauenswürdig sind ... und dass sie sogar den Schlüssel zu unserem letztendlichen Sieg über das Dämonenreich in der Hand halten. Gibt es irgendetwas, das ich tun könnte, um Ihnen zu beweisen, dass wir Sie nicht ausnutzen wollen?«
»Ich ...« Tessa holte tief Luft. »Als die Dunklen Schwestern mir erstmals von meinen Fähigkeiten erzählten, dachte ich, sie wären vollkommen verrückt«, setzte sie schließlich an. »Ich habe ihnen gesagt, dass es derartige Dinge nicht gibt. Aber kurz darauf hatte ich das Gefühl, in einer Art Albtraum gefangen zu sein, in dem das alles tatsächlich existierte. Und dann erschien Mr Herondale — er kannte sich mit Magie aus und er besaß diesen glühenden Stein und ich dachte, hier ist endlich mal jemand, der mir vielleicht helfen kann.« Tessa schaute Charlotte an. »Doch Sie scheinen nicht zu wissen, warum ich so bin, wie ich bin, oder was ich überhaupt bin. Und wenn nicht einmal Sie es wissen ...«
»Es kann ... sehr schwierig sein, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, ihre wahre Gestalt und Form zu erkennen«, erwiderte Charlotte bedächtig. »Nur die wenigsten Menschen sind dazu in der Lage. Die meisten könnten den Anblick nicht ertragen. Aber ich habe Ihre Briefe gelesen und weiß, dass Sie stark sind, Miss Gray. Sie haben etwas durchgestanden, das anderen jungen Frauen vermutlich das Leben gekostet hätte —
Schattenweltler oder nicht.«
»Ich hatte keine Wahl — ich habe es für meinen Bruder getan. Die Schwestern hätten ihn sonst umgebracht.«
»Manche Menschen hätten das zugelassen«, erwiderte Charlotte. »Aber ich weiß aus Ihren Briefen, dass Sie diesen Gedanken keinen Moment in Erwägung gezogen haben.« Sie beugte sich vor. »Haben Sie irgendeine Ahnung, wo Ihr Bruder stecken könnte? Oder glauben Sie, dass er sehr wahrscheinlich tot ist?«
Tessa schnappte bestürzt nach Luft.
»Mrs Branwell!« Sophie, die den Saum des bordeauxroten Kleides mit einer Bürste bearbeitet hatte, hob den Kopf und musterte Charlotte vorwurfsvoll. Der Ton in ihrer Stimme überraschte Tessa: Es stand Dienstboten nicht zu, ihre Dienstherren zu berichtigen. In diesem Punkt hatten die Bücher, die Tessa gelesen hatte, keinen Zweifel gelassen.
Doch Charlotte zog nur ein reumütiges Gesicht.
»Sophie ist mein rettender Engel. Ich neige dazu, mich manchmal zu unverblümt zu äußern«, räumte sie ein. »Ich dachte, dass Sie vielleicht etwas wüssten, was nicht in Ihren Briefen stand und das uns einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort geben könnte.«
Tessa schüttelte den Kopf. »Die Dunklen Schwestern haben mir gesagt, dass er an einem geheimen Ort gefangen gehalten würde. Und ich vermute, er ist noch immer dort. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich ihn finden soll.«
»Dann wäre es am besten, Sie bleiben hier im Institut, bis Sie etwas Genaueres über seinen Aufenthaltsort wissen.«
»Ich brauche Ihre Mildtätigkeit nicht. Ich kann mir jederzeit eine andere Unterkunft suchen«, erwiderte Tessa störrisch.
»Das wäre keine Mildtätigkeit. Wir sind durch unsere eigenen Gesetze dazu verpflichtet, Schattenwesen zu helfen. Wenn wir Sie fortschicken und einfach Ihrem Schicksal überlassen würden, wäre das ein Verstoß gegen das Abkommen, an dessen Wahrung wir rechtlich gebunden sind.«