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»Und Sie würden von mir keinerlei Gegengefallen erwarten?« Tessas Stimme klang bitter. »Sie werden mich nicht bitten, meine ... meine Fähigkeit zu nutzen? Sie werden nicht von mir verlangen, dass ich mich verwandle?«

»Falls Sie Ihre wahre Kraft nicht zu nutzen wünschen, dann werden wir Sie unter keinen Umständen dazu zwingen«, erklärte Charlotte. »Obwohl ich jedoch der Ansicht bin, dass Sie selbst davon profitieren könnten, wenn Sie lernen würden, diese Fähigkeit zu beherrschen und zu nutzen ...«

»Nein!«, stieß Tessa so laut hervor, dass Sophie vor Schreck zusammenzuckte und die Bürste fallen ließ. Charlotte warf ihr einen Blick zu und wandte sich dann wieder an Tessa. »Wie Sie wünschen, Miss Gray. Es gibt bestimmt noch andere Möglichkeiten, wie Sie uns unterstützen könnten. Ich bin mir sicher, dass Sie so manches wissen, was Sie nicht in Ihren Briefen erwähnt haben. Und wir könnten Ihnen im Gegenzug dabei helfen, Ihren Bruder zu finden.«

Tessa hob ruckartig den Kopf. »Das würden Sie tun?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.« Charlotte erhob sich. Weder sie noch Tessa hatten den Tee angerührt, der auf dem Tablett zwischen ihnen stand. »Sophie, wenn du Miss Gray bitte beim Ankleiden helfen und sie dann pünktlich zum Dinner ins Speisezimmer führen könntest ...«

»Dinner?« Nach diesen Informationen über Nephilim, Feenwesen, Vampire und Dämonen erschien Tessa die Aussicht auf ein Abendessen fast schon erschreckend normal.

»Natürlich. Es ist beinahe sieben Uhr. Will kennen Sie ja bereits. Dann können Sie sich auch mit allen anderen bekannt machen. Vielleicht erkennen Sie ja dann, dass wir durchaus vertrauenswürdig sind.« Mit einem kurzen Nicken verließ Charlotte das Zimmer. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, schüttelte Tessa stumm den Kopf. Ihre Tante Harriet war ziemlich herrisch gewesen, aber im Vergleich zu Charlotte Branwell erschien sie ihr nun wie ein Lamm.

»Sie wirkt manchmal etwas schroff, aber im Grunde ist sie eine gute Seele«, bemerkte Sophie und legte das Kleid auf das Bett, das Tessa an diesem Abend tragen sollte. »Ich kenne niemanden mit einem größeren Herzen.«

Vorsichtig berührte Tessa den Ärmel des Kleides. Wie Charlotte gesagt hatte, war es aus dunkelrotem Satin geschneidert und an Taille und Saum mit schwarzem Moireband versehen. Nie zuvor hatte sie etwas derart Hübsches getragen.

»Soll ich Ihnen beim Ankleiden helfen, Miss?«, fragte Sophie.

Plötzlich erinnerte Tessa sich wieder an etwas, das ihre Tante Harriet immer zu sagen gepflegt hatte: Einen guten Menschen erkennt man nicht daran, was seine Freunde über ihn sagen, sondern daran, wie er seine Dienstboten behandelt. Wenn Sophie der Ansicht war, dass Charlotte ein großes Herz besaß, dann traf das ja vielleicht tatsächlich zu. Tessa hob den Kopf und wandte sich an das Mädchen. »Vielen Dank, Sophie. Ich denke, ich könnte etwas Unterstützung gebrauchen.«

Von ihrer Tante einmal abgesehen, hatte Tessa sich noch nie beim Ankleiden helfen lassen — das Kleid war eindeutig für ein kleineres Mädchen geschneidert worden, sodass Sophie die Schnüre von Tessas Korsett fest zuziehen musste, damit sie trotz ihrer schlanken Figur hineinpasste. Dabei lachte das Dienstmädchen die ganze Zeit leise in sich hinein.

»Mrs Branwell hält nichts von eng geschnürten Miedern«, erklärte sie. »Sie meint, das verursacht nur Kopfschmerzen und Schwindelanfälle, und ein Schattenjäger kann sich keine Schwäche erlauben. Aber Miss Jessamine trägt ihre Kleider gern figurbetont und besteht auf einer schmal geschnittenen Taille.«

»Nun ja«, stieß Tessa leicht atemlos hervor, »ich bin ja auch keine Schattenjägerin.«

»Daran besteht kein Zweifel«, pflichtete Sophie ihr bei und schloss die zahlreichen Knöpfe im Rücken des Kleids mithilfe eines kleinen Stiefelknöpfers. »So, fertig. Wie gefallen Sie sich?«

Als Tessa sich im Spiegel betrachtete, riss sie erstaunt die Augen auf: Das taillierte Kleid war viel zu klein für sie und schmiegte sich fast hauteng um ihren Körper bis hinunter zu den Hüften, wo eine Fülle von Stoff gerafft, nach hinten geführt und in einer dezenten Turnüre über ihrem Gesäß zusammengefasst wurde. Unter den zurückgeschlagenen Ärmeln kamen gekräuselte champagnerfarbene Spitzenmanschetten zum Vorschein. Irgendwie wirkte sie ... älter, überlegte Tessa — nicht mehr wie diese tragische Vogelscheuche im Dunklen Haus, andererseits aber auch nicht wie sie selbst. Was wäre, wenn ich bei einer der Verwandlungen einen Fehler gemacht und mich nicht in mich selbst zurückverwandelt habe? Was wäre, wenn das hier nicht einmal mein wahres Gesicht ist? 

Der Gedanke versetzte sie derart in Panik, dass sie das Gefühl hatte, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.

»Sie sehen ein wenig blass aus«, bemerkte Sophie, die Tessas Gesicht besonnen musterte, an dem eng sitzenden Kleid jedoch keinen Anstoß zu nehmen schien. »Versuchen Sie doch einmal, sich in die Wangen zu kneifen, um ihnen etwas mehr Farbe zu verleihen. Das macht Miss Jessamine jedenfalls immer.«

»Das ist wirklich nett von ihr — Miss Jessamine, meine ich —, mir dieses Kleid zu borgen.«

Sophie lachte leise in sich hinein. »Miss Jessamine hat dieses Kleid noch nie getragen. Es ist ein Geschenk von Mrs Branwell, aber Miss Jessamine meinte, sie würde darin farblos aussehen, und dann hat sie es in die hinterste Ecke ihres Kleiderschranks geworfen. Ziemlich undankbar, wenn Sie mich fragen ... aber jetzt sollten Sie sich wirklich kurz in die Wangen kneifen, Miss Gray — Sie wirken so bleich wie der Mond.«

Tessa folgte Sophies Rat, dankte ihr anschließend und trat aus dem Zimmer in einen langen, steinernen Korridor, wo Charlotte sie bereits erwartete und sich sofort in Bewegung setzte, als Tessa die Tür hinter sich geschlossen hatte. Leicht humpelnd versuchte Tessa, mit ihr Schritt zu halten — die schwarzen Seidenschuhe waren keine Wohltat für ihre geschundenen Füße.

Während sie Charlotte durch die Gänge folgte, kam sie sich vor wie in einer Burg: Die Decken waren so hoch, dass sie in den Schatten verschwanden, und an den Mauern hingen schwere Gobelins. Oder zumindest stellte Tessa sich das Innere einer Burg so vor. Verschiedene wiederkehrende Motive schmückten die Wandteppiche — Sterne, Schwerter und dieselben schwarzen Muster, die sie auf Wills und Charlottes Haut gesehen hatte. Außerdem tauchte ein Bild immer wieder auf: ein Engel, der aus einem See aufstieg, ein Schwert in der einen und einen Kelch in der anderen Hand.

»Dieses Gebäude war früher einmal eine Kirche«, beantwortete Charlotte Tessas unausgesprochene Frage. »Eine Kirche namens ›All-Hallows-the-Less‹. Während des Großen Brands im Jahr 1666 brannte sie bis auf die Grundmauern nieder. Wir übernahmen das Grundstück und errichteten das Institut auf den Ruinen des alten Gotteshauses. Für unsere Zwecke ist ein Standort auf geweihtem Boden sehr nützlich.«

»Finden die Menschen es denn nicht merkwürdig, dass Sie Ihr Institut auf den Mauern einer alten Kirche gebaut haben?«, fragte Tessa.

»Sie wissen nichts davon. Irdische — so bezeichnen wir herkömmliche Bürger — nehmen uns gar nicht wahr«, erklärte Charlotte. »Für sie sieht das Gelände nach wie vor wie ein leeres Grundstück aus. Darüber hinaus interessieren sich Irdische nicht sonderlich für Dinge, die sie nicht direkt betreffen.« Sie drehte sich um und komplimentierte Tessa durch eine Tür in einen großen, hell erleuchteten Speisesaal. »Da wären wir.«

Tessa musste einen Moment blinzeln, um ihre Augen an das helle Licht zu gewöhnen. Dann sah sie sich um. Im Zentrum des riesigen Raums stand ein großer Tisch, der bis zu zwanzig Gästen Platz bot und in dessen Mitte eine flache Glasschale mit weißen Blüten thronte. Von der Decke hing ein gewaltiger Gaslüster, der den Saal mit einem gelblichen Schein erfüllte. Oberhalb eines Sideboards, auf dem sich teures Porzellan stapelte, erstreckte sich ein goldgerahmter Spiegel über die gesamte Breite der Wand. Alles wirkte sehr geschmackvoll — und sehr normal. Der Raum hatte nichts Ungewöhnliches an sich, nichts, das auch nur einen vagen Hinweis auf die wahre Natur der Hausbewohner bot.