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Obwohl der gesamte Tisch mit weißen Damasttüchern drapiert war, hatten die Dienstboten lediglich das hintere Ende der Tafel für fünf Personen eingedeckt. Und nur zwei Personen hatten bereits Platz genommen: Will und ein blondes Mädchen, das etwa in Tessas Alter war und ein schimmerndes, tief ausgeschnittenes Kleid trug. Die beiden schienen einander geflissentlich zu ignorieren, und als Charlotte und Tessa den Raum betraten, schaute Will sichtlich erleichtert auf.

»Will«, wandte Charlotte sich an den jungen Mann.

»Du erinnerst dich doch gewiss noch an Miss Gray?«

»Meine Erinnerungen an Miss Gray sind in der Tat höchst lebendig«, bestätigte Will. Statt der seltsamen schwarzen Kleidung vom Vortag trug er nun eine herkömmliche Stoffhose und einen grauen Gehrock mit schwarzem Samtkragen. Das Grau ließ seine Augen noch blauer leuchten als zuvor. Er betrachtete Tessa mit einem belustigten Lächeln, woraufhin diese errötete und rasch den Blick abwandte.

»Und Jessamine — Jessie, nun schau doch mal her! Jessie, das ist Miss Theresa Gray; Miss Gray, das ist Miss Jessamine Lovelace.«

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, murmelte Jessamine. Tessa starrte das Mädchen mit großen Augen an: Jessamine war fast unanständig hübsch — eine englische Schönheit, wie sie sonst nur in Tessas Büchern vorkam, mit weizenblonden Haaren, hellbraunen Augen und einem cremeweißen Teint. Sie trug ein leuchtend blaues Kleid und an fast jedem Finger Ringe. Falls sie dieselben schwarzen Zeichnungen wie Will und Charlotte besaß, waren sie jedenfalls nicht zu sehen, überlegte Tessa.

Will bedachte Jessamine mit einem Ausdruck unverhohlener Abscheu in den Augen und drehte sich dann wieder zu Charlotte um. »Und wo ist dein geistig unbedarfter Gatte?«

Charlotte ließ sich auf ihren Stuhl sinken und bedeutete Tessa, ihr gegenüber auf dem Stuhl neben Will Platz zu nehmen. »Henry ist in seiner Werkstatt. Ich habe Thomas aufgetragen, ihn zu holen. Er müsste jeden Moment hier sein.«

»Und Jem?«

Charlotte schoss ihm einen warnenden Blick zu, erklärte aber nur: »Jem ist unpässlich. Er fühlt sich nicht wohl.«

»Er fühlt sich nie wohl.« Jessamine klang angewidert.

Tessa wollte gerade nachhaken, wer dieser Jem sei, als Sophie den Raum betrat, dicht gefolgt von einer molligen Frau mittleren Alters, aus deren Haarknoten sich ein paar graue Strähnen gelöst hatten. Die beiden begannen sofort mit dem Servieren der Speisen. Beim Anblick von dampfender Suppe, saftigem Schweinebraten, knusprigen Kartoffeln und frischen Brötchen mit cremegelber Butter wurde Tessa plötzlich ganz schwindelig im Kopf — sie hatte völlig vergessen, wie hungrig sie war. Herzhaft biss sie in ein Brötchen, beherrschte sich aber im nächsten Moment, da sie sah, wie Jessamine sie anstarrte.

»Wissen Sie, ich glaube, ich habe noch nie zuvor eine Hexe essen gesehen«, sagte Jessamine blasiert.

»Ich darf wohl annehmen, dass Sie sich niemals einer Abmagerungskur zu unterziehen brauchen, oder? Schließlich können Sie sich ja mithilfe der Magie schlank zaubern.«

»Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob sie überhaupt eine Hexe ist, Jessie«, warf Will ein. Jessamine ignorierte ihn. »Ist es schrecklich, durch und durch böse zu sein? Machen Sie sich Sorgen, dass Sie eines Tages in die Hölle kommen?« Sie beugte sich zu Tessa hinüber. »Wie mag der Teufel wohl sein? Hm? Was denken Sie?«

Tessa legte ihre Gabel zur Seite. »Würden Sie ihn gern kennenlernen? Ich könnte ihn im Nu heraufbeschwören, falls Sie es wünschen. Wo ich doch eine Hexe bin.«

Will brach in schallendes Gelächter aus, während Jessamine die Augen zu Schlitzen zusammenkniff.

»Es besteht kein Grund, unhöflich zu sein ...«, hob sie an, brach dann aber ab, als Charlotte sich mit einem erstaunten Aufschrei kerzengerade aufsetzte.

»Henry!«

Ein Mann stand in der Bogentür des Speisesaals — eine vertraut wirkende, große Gestalt mit einem wirren kupferroten Haarschopf und haselnussbraunen Augen. Er trug eine verschlissen wirkende Norfolkjacke aus Tweed über einer fürchterlichen, leuchtend gestreiften Weste und seine Hose war über und über mit Dreck bedeckt, der verdächtig nach Kohlenstaub aussah. Aber nicht dieser Anblick hatte Charlotte aufschreien lassen, sondern die Tatsache, dass sein linker Arm offensichtlich Feuer gefangen hatte. Kleine Flammen züngelten oberhalb seines Ellbogens und sandten dünne schwarze Rauchkringel in die Luft.

»Charlotte, meine Liebe«, wandte Henry sich an seine Frau, die ihn entsetzt und mit offenem Mund anstarrte. Auch Jessamine neben ihr hatte die Augen weit aufgerissen. »Entschuldige bitte meine Verspätung. Aber ich glaube, ich bin nicht mehr weit von der Vollendung des Sensors entfernt ...«

»Henry«, unterbrach Will ihn, »du brennst. Aber das weißt du ja sicherlich, oder?«

»Oh, ja«, bestätigte Henry eifrig. Die Flammen hatten inzwischen seine Schulter erreicht. »Ich habe den ganzen Tag wie ein Besessener gearbeitet. Charlotte, hast du gehört, was ich bezüglich des Sensors gesagt habe?«

Charlotte ließ die Hand sinken, die sie in ihrer Bestürzung vor den Mund geschlagen hatte. »Henry!«, quietschte sie. »Dein Arm!«

Henry schaute kurz auf seinen Arm und riss erstaunt den Mund auf. »Teufel auch!«, konnte er gerade noch hervorstoßen, bevor Will geistesgegenwärtig aufsprang, sich die Blumenvase auf dem Tisch schnappte und ihren Inhalt über Henry goss. Mit einem protestierenden Zischen erloschen die Flammen und ließen Henry triefend nass im Türrahmen zurück, einen Ärmel angesengt und ein Dutzend feuchter weißer Blüten zu seinen Füßen.

Doch Henry strahlte und tätschelte den brandig schwarzen Stoff mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. »Wisst ihr, was das bedeutet?«

Will stellte die Vase wieder auf den Tisch. »Dass du deinen Ärmel angezündet, es aber nicht einmal bemerkt hast?«

»Nein. Es bedeutet, dass die feuerhemmende Mischung, die ich letzte Woche entwickelt habe, tatsächlich funktioniert!«, erwiderte Henry stolz. »Dieses Material muss bereits gut zehn Minuten in Flammen gestanden haben und ist dabei nicht einmal zur Hälfte durchgebrannt!« Interessiert betrachtete er seinen Arm. »Vielleicht sollte ich den anderen Ärmel auch anzünden, um zu überprüfen, wie lange ...«

»Henry«, fiel Charlotte ihm ins Wort, die sich offensichtlich von ihrem Schock erholt hatte. »Henry, wenn du dich absichtlich in Brand steckst, werde ich umgehend die Scheidung beantragen. Jetzt setz dich endlich und iss etwas. Und sag unserem Gast Guten Abend.«

Henry tat, wie ihm geheißen, schaute kurz über den Tisch zu Tessa und blinzelte überrascht. »Ich kenne Sie. Sie haben mich gebissen!«, konstatierte er erfreut, als riefe er sich eine angenehme Erinnerung ins Gedächtnis, die sie beide miteinander verband. Charlotte schüttelte den Kopf und warf ihrem Mann einen verzweifelten Blick zu.

»Hast du Miss Gray bereits nach dem Pandemonium Club befragt?«, wandte Will sich an Charlotte.

Pandemonium Club. »Ich kenne diesen Namen. Er stand auf dem Schlag von Mrs Darks Kutsche«, warf Tessa ein.

»Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine Organisation«, erklärte Charlotte. »Eine ziemlich alte Organisation von Irdischen, deren Mitglieder sich für die Kunst der Magie interessieren. Bei ihren Zusammenkünften versuchen sie, Zaubersprüche anzuwenden und Dämonen und Geister heraufzubeschwören.« Sie seufzte.

Jessamine schnaubte verächtlich. »Ich verstehe nicht, warum sie sich überhaupt die Mühe machen«, sagte sie. »Zauberformeln sprechen ... in Kapuzenroben herumlaufen ... und kleine Brände legen ... Einfach lächerlich!«

»Das ist längst nicht alles, was sie so treiben«, widersprach Will. »Zudem besitzen sie in der Schattenwelt wesentlich mehr Einfluss, als man annehmen sollte. Viele wohlhabende und bedeutende Personen der irdischen Gesellschaft zählen zu ihren Mitgliedern ...«