Tessa schüttelte den Kopf. »Um ... um sich mit mir zu vermählen, behaupteten die Schwestern.«
»Sich mit Ihnen vermählen?«, höhnte Jessamine verächtlich. »Einfach lächerlich. Wahrscheinlich sollten Sie als Menschenopfer dargebracht werden und die Schwestern wollten Sie nicht in Panik versetzen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sinnierte Will.
»Bevor ich Tessa fand, habe ich in mehrere Räume geschaut, und ich erinnere mich, dass ein Zimmer wie ein Brautgemach ausstaffiert war, mit weißen Vorhängen über einem riesigen Himmelbett. Und am Schrank hing ein weißes Brautkleid ... etwa in Ihrer Größe.« Er betrachtete Tessa aufmerksam.
»Eine offizielle Eheschließung kann ein sehr machtvolles Instrument sein«, sagte Charlotte. »Den gesetzlichen Vorschriften entsprechend vollzogen, kann sie dem Ehegatten Zugang zu Ihren Fähigkeiten gewähren, Tessa, ihm sogar das Recht verleihen, über Sie zu bestimmen.« Nachdenklich trommelte sie mit den Fingern auf die Tischplatte. »Und was den ›Magister‹ anbelangt: Ich habe diesen Begriff im Archiv nachgeschlagen. Häufig bezeichnet er den Leiter eines Hexenzirkels oder einer anderen Gruppe von Magiern. Also jene Sorte von Leuten, als die sich die Mitglieder des Pandemonium Clubs gern betrachten. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe den starken Verdacht, dass zwischen dem Magister und dem Pandemonium Club irgendeine Verbindung besteht.«
»Wir haben schon öfter Ermittlungen über den Club und seine Mitglieder angestellt und ihnen nie irgendetwas nachweisen können«, warf Henry ein. »Und es ist nun mal nicht gesetzeswidrig, sich wie ein Idiot aufzuführen.«
»Dein Glück!«, murmelte Jessamine.
Henry wirkte gekränkt, schwieg aber, während Charlotte Jessamine einen eisigen Blick zuwarf.
»Henry hat recht«, sagte Will. »Es ist ja nicht so, als hätten Jem und ich sie nicht bei irgendwelchen illegalen Praktiken erwischt ... etwa beim Genuss von Absinth, der mit Dämonenpulver versetzt war und so weiter. Aber solange sie sich nur gegenseitig Schaden zufügten, schien es uns kaum der Mühe wert, uns einzumischen. Falls sie jedoch jetzt dazu übergegangen sind, anderen Schaden zuzufügen ...«
»Kennst du irgendjemanden aus dem Kreis der Mitglieder?«, fragte Henry neugierig.
»Von den Irdischen niemanden«, erwiderte Will abschätzig. »Es gab keinen Grund, ihre Identität festzustellen, und viele von ihnen besuchten die Veranstaltungen des Clubs maskiert oder verkleidet. Allerdings habe ich ein paar aus den Reihen der Schattenweltler wiedererkannt: Magnus Bane, Lady Belcourt, Ragnor Fell, Hydepark ...«
»De Quincey? Ich hoffe, er hat nicht gegen irgendwelche Gesetze verstoßen. Du weißt doch, welche Mühe wir hatten, einen Vampir-Anführer zu finden, mit dem wir konform gehen«, sorgte Charlotte sich. Will lächelte in seinen Tee hinein. »Jedes Mal, wenn ich ihm begegnet bin, hat er sich wie ein wahrer Engel benommen.«
Charlotte warf ihm einen scharfen Blick zu und wandte sich dann wieder an Tessa. »Besaß das Dienstmädchen, das Sie erwähnten, diese Miranda, dieselbe Fähigkeit wie Sie? Und was ist mit Emma?«
»Nein, das glaube ich nicht. Wenn Miranda die Gabe besessen hätte, hätten die Schwestern sie doch ebenfalls darin unterrichtet, oder nicht? Und Emma besaß keinerlei Erinnerungen an etwas Derartiges.«
»Und die Schwestern haben den Pandemonium Club mit keinem Wort erwähnt? Oder irgendein höheres Ziel, das sie anstrebten?«
Tessa zermarterte sich das Hirn. Worüber hatten sich die Dunklen Schwestern unterhalten, sobald sie annahmen, dass Tessa nicht zuhörte? »Ich glaube nicht, dass sie den Namen des Clubs jemals erwähnt haben. Aber manchmal sprachen sie von bevorstehenden Zusammenkünften, an denen sie teilnehmen wollten ... und sie sprachen davon, wie erfreut die anderen Mitglieder über die Fortschritte sein würden, die sie mit mir machten. Einmal ist auch ein Name gefallen ...« Tessa verzog das Gesicht im Versuch, sich den Moment wieder ins Gedächtnis zu rufen. »Der Name eines anderen Clubmitglieds. Ich kann mich nicht genau daran erinnern, aber ich meine, er hätte irgendwie fremdländisch geklungen ...«
Charlotte beugte sich erneut weit über den Tisch auf sie zu. »Können Sie es nicht wenigstens versuchen? Versuchen, sich zu erinnern?«
Tessa wusste, dass Charlotte ihr nichts Böses wollte, aber dennoch weckte ihre Bitte Erinnerungen an andere Stimmen — Stimmen, die sie drängten, sie solle versuchen, tief in sich zu gehen, die Kraft aus sich herauszuholen. Stimmen, die bei der geringsten Provokation hart und unerbittlich werden konnten. Stimmen, die schmeichelten und drohten und logen. Tessa setzte sich auf. »Zuerst will ich wissen, was mit meinem Bruder ist.«
Charlotte blinzelte. »Ihr Bruder?«
»Sie haben gesagt, wenn ich Ihnen Informationen über die Dunklen Schwestern liefere, würden Sie mir helfen, meinen Bruder zu finden. Und ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß, aber noch immer keine Ahnung, wo Nate ist.«
»Oh.« Charlotte lehnte sich zurück und wirkte fast erschreckt. »Natürlich. Gleich morgen werden wir unsere Nachforschungen über seinen Verbleib einleiten«, versicherte sie Tessa. »Wir beginnen bei seiner Arbeitsstätte und werden mit seinem Arbeitgeber sprechen, um herauszufinden, ob dieser irgendwelche Informationen besitzt. Sie müssen wissen, dass wir über weitreichende Kontakte verfügen, Miss Gray. Die Schattenwelt ist eine ebensolche Gerüchteküche wie die Welt der Irdischen. Letztendlich werden wir jemanden aufspüren, der etwas über Ihren Bruder weiß.«
Als das Dinner kurz darauf beendet war, erhob Tessa sich vom Tisch und entschuldigte sich, innerlich sehr erleichtert. Charlottes Angebot, sie zu ihrem Zimmer zu begleiten, lehnte sie dankend ab. Sie wollte allein sein, um ihre Gedanken zu ordnen.
Während sie langsam durch den Flur ging, der von Fackeln erleuchtet war, erinnerte sie sich an den Tag, an dem sie in Southampton das Schiff verlassen hatte. Sie war nach England gekommen, wo sie niemanden außer ihrem Bruder kannte, und sie hatte zulassen müssen, dass die Dunklen Schwestern sich ungehindert ihrer Hilfe bedienten. Nun war sie auf die Schattenjäger gestoßen ... doch wer konnte schon sagen, ob diese sie besser behandeln würden? Genau wie die Dunklen Schwestern wollten diese Nephilim etwas von ihr - Informationen, die sie besaß. Und nun, da sie ihre Fähigkeit kannten, stellte sich lediglich die Frage, wie lange es wohl dauern würde, bis sie diese Gabe für ihre Zwecke zu nutzen versuchten.
Tief in Gedanken versunken, ging Tessa weiter und wäre fast gegen eine Wand gestoßen. Erst kurz davor hielt sie erschrocken inne und schaute sich stirnrunzelnd um. Sie lief nun schon viel länger durch dieses Haus, als sie beim Hinweg mit Charlotte benötigt hatte, aber ihr Zimmer hatte sie noch immer nicht gefunden. Genau genommen war sie sich nicht einmal sicher, ob sie den richtigen Flur gefunden hatte. Sie befand sich zwar in einem Gang, der von Fackeln beleuchtet wurde und an dessen Mauern üppige Wandteppiche hingen, aber handelte es sich auch um den Korridor, von dem ihr Zimmer abging? Einige Flure waren hell erleuchtet, andere wirkten eher düster, je nach Intensität der Fackeln an den Wänden. Manchmal flackerten die Fackeln kurz auf und erloschen dann zu einem schwachen Glimmen, sobald sie an ihnen vorbeigegangen war — als reagierten sie auf einen bestimmten Anreiz, den Tessa aber nicht erkennen konnte. Und nun befand sie sich in einem Korridor, der ihr besonders dämmrig erschien. Vorsichtig tastete sie sich bis zum Ende des Ganges, wo er sich in zwei weitere, identische Flure aufgabelte.
»Verirrt?«, erkundigte sich plötzlich eine Stimme hinter ihr — eine schleppende, leicht amüsiert wirkende Stimme, die Tessa sofort wiedererkannte. Will.
Tessa drehte sich um und sah, dass er direkt hinter ihr lässig an der Wand lehnte, einen Fuß achtlos über den anderen geschlagen. In der Hand hielt er seinen leuchtenden Stein, den er einsteckte, als Tessa ihn anschaute.