»Sie sollten mir wirklich erlauben, Sie ein wenig herumzuführen, Miss Gray«, schlug er vor. »Damit Sie sich hier im Institut nicht wieder verlaufen.«
Aufgebracht musterte Tessa ihn mit zusammengekniffenen Augen.
»Natürlich können Sie auch einfach weiter umherirren, wenn Sie es wünschen«, fügte er hinzu. »Allerdings muss ich Sie warnen, dass es in diesem Institut mindestens drei oder vier Türen gibt, die Sie auf keinen Fall öffnen sollten. Da wäre beispielsweise die Tür, die zu dem Verlies führt, in dem wir verhaftete Dämonen gefangen halten. Und die können wirklich sehr unangenehm werden. Dann wäre da noch die Waffenkammer: Einige der dortigen Waffen sind verdammt scharf und besitzen einen ganz eigenen Willen. Nicht zu vergessen die Türen, hinter denen sich nichts als Luft befindet. Sie dienen zur Verwirrung von Eindringlingen, aber wenn man sich in den oberen Geschossen einer ehemaligen Kirche bewegt, möchte man nun wirklich nicht versehentlich in einen solchen Raum geraten und das Gleichgewicht verlieren ...«
»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Tessa. »Sie sind ein schlechter Lügner, Mr Herondale. Dennoch ...« Sie unterbrach sich und biss sich auf die Lippe. »Dennoch mag ich es nicht, orientierungslos umherzuirren. Daher dürfen Sie mir das Institut zeigen, wenn Sie versprechen, keine Tricks zu versuchen.«
Will gab ihr sein Wort darauf und zu Tessas Überraschung hielt er sich auch daran. Er führte sie durch eine Reihe identisch wirkender Flure und hielt ihr dabei einen kurzen Vortrag — über die Anzahl der Räume im Institut (mehr als man zählen konnte) und die Anzahl der Schattenjäger, die hier untergebracht werden konnten (Hunderte). Dann präsentierte er Tessa den riesigen Ballsaal, in dem die jährliche Weihnachtsfeier der hiesigen Brigade stattfand — ein Begriff, der die gesamte Gruppe der in London ansässigen Schattenjäger bezeichnete, wie Will erklärte.
(»In New York redet man in diesem Zusammenhang von der ›Division‹«, fügte er hinzu. Amerikanische Schattenjäger pflegten offenbar ihre eigene Sprache.)
Nach der Besichtigung des Ballsaals führte Will Tessa in die Küche und machte sie mit Agatha bekannt, der grauhaarigen Frau, die Tessa bereits im Speisezimmer gesehen hatte. Die Köchin saß in der Nähe eines gewaltigen Küchenherdes in einem Schaukelstuhl, ihr Nähzeug auf dem Schoß. Zu Tessas Verwunderung rauchte sie eine riesige Pfeife, um deren Stiel herum sie nachsichtig lächelte, als Will sich ein paar Schokoladentörtchen nahm, die auf einem Kuchengitter auskühlten, und Tessa eines anbot. Doch Tessa lehnte schaudernd ab. »Oh, nein danke. Ich hasse Schokolade.«
Will musterte sie bestürzt. »Eine Schokoladenhasserin? Wie zutiefst bedauernswert ...«
»Er verputzt einfach alles«, vertraute Agatha Tessa mit einem friedfertigen Lächeln an. »Schon seit dem Tag, als er mit zwölf hierher gekommen ist. Ich vermute ja, dass das ganze Training ihn daran hindert, Fett anzusetzen.«
Beim Gedanken an einen dicklichen Will musste Tessa lächeln. Gleichzeitig machte sie der schmauchenden Köchin Komplimente zum tadellosen Zustand der riesigen Küche, die aussah, als könnte darin für Hunderte von Personen gekocht werden — ein Eindruck, den die zahlreichen Weckgläser mit eingelegtem Obst und Gemüse, die großen Gewürzdosen in den Regalen und die schmorende Rinderkeule über dem offenen Herd noch verstärkten.
»Ausgezeichnet«, sagte Will, nachdem sie die Küche verlassen hatten. »Ein gerissener Schachzug, Agatha Komplimente zu machen. Nun wird sie Sie mögen. Und das ist auch gut so: Denn wenn Agatha jemanden nicht mag, hat derjenige nichts zu lachen. Sie würde beispielsweise Steinchen unter Ihren Haferbrei mischen.«
»Oje!«, erwiderte Tessa, konnte aber nicht verhehlen, dass sie sich amüsierte.
Von der Küche führte sie der Weg zum Musikzimmer, wo mehrere Harfen und ein altes Tafelklavier Staub ansetzten, und anschließend eine Treppe hinunter zum Salon, ein einladender Raum mit hübsch bedruckten Blumentapeten an den Wänden. Zwei sehr bequem wirkende Lehnsessel standen vor einem offenen Kamin, in dem ein wärmendes Feuer knisterte, und in einer Ecke befand sich ein großer Schreibtisch. Dies sei Charlottes Reich, erklärte Will, wo sie die meisten mit der Führung des Instituts verbundenen Aufgaben erledigte — worauf Tessa sich fragte, was Henry Branwell denn wohl den ganzen Tag machte. Anschließend führte Will sie zur Waffenkammer, die Tessa besser ausgestattet erschien als so manches Museum. An den Wänden hingen Hunderte von Streitkolben, Äxten, Dolchen, Schwertern, Messern und sogar ein paar Pistolen sowie eine umfassende Sammlung von Kettenhemden, Arm- und Beinschienen bis hin zu ganzen Panzerrüstungen. In der Mitte des Raums saß ein kräftig gebauter junger Mann mit dunkelbraunen Haaren an einem hohen Tisch und polierte eine Reihe kurzer Stichwaffen. Als Will und Tessa die Waffenkammer betraten, schaute er auf und lächelte. »'n Abend, Master Will.«
»Guten Abend, Thomas. Miss Gray kennst du ja bereits.« Will deutete auf Tessa.
»Sie waren im Dunklen Haus!«, stieß Tessa hervor und betrachtete Thomas nun eingehender. »Sie sind zusammen mit Mr Branwell durch das Loch in der Mauer gekrochen. Ich dachte ...«
»Dass ich ein Schattenjäger wäre?« Thomas grinste. Er besaß ein freundliches, offenes Gesicht, umrahmt von einer Fülle dunkler Locken. Trotz seines jugendlichen Alters wirkte er extrem groß und muskulös und der Umfang seiner Oberarme dehnte den Stoff seines Hemdes, das am Kragen offen stand und einen kräftigen Hals erkennen ließ. »Nein, ich bin kein Schattenjäger, Miss — nur als solcher ausgebildet.«
Will lehnte sich an die Wand. »Ist die Lieferung Stilette schon eingetroffen, Thomas? Ich bin in letzter Zeit auf eine beträchtliche Menge an Shax-Dämonen gestoßen und ich brauche eine schmale Klinge, mit der ich deren Panzerung durchdringen kann.«
Thomas erklärte weitschweifig, dass es aufgrund der schlechten Wetterverhältnisse in Idris zu einer Lieferverzögerung gekommen sei, aber Tessas Blick war bereits auf etwas anderes gefallen: ein hohes Gefäß aus hochglanzpoliertem, vergoldetem Holz, mit einem eingebrannten Emblem auf der Vorderseite — eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlang.
»Ist das nicht das Symbol der Dunklen Schwestern?«, fragte sie beunruhigt. »Und was hat das hier zu suchen?«
»Es ist nicht ganz dasselbe«, widersprach Will.
»Bei diesem Behältnis handelt es sich um eine Pyxis. Dämonen haben keine Seele, jedenfalls keine richtige; ihr Bewusstsein entspringt einer Art Energie, die manchmal eingefangen und gelagert werden kann. In der Pyxis ist diese Energie sicher aufbewahrt. Und das Symbol ist ein Ouroboros, der ›Selbstverzehrer‹ — ein uraltes alchemistisches Symbol, das die verschiedenen Dimensionen repräsentiert: unsere Welt im Inneren der Schlange und alle anderen Daseinsformen jenseits des Schlangenkörpers. Beim Emblem der Dunklen Schwestern habe ich zum ersten Mal einen Ouroboros mit zwei Schlangen gesehen.« Will zuckte die Achseln. »Oh, nein, das sollten Sie nicht tun!«, fügte er hinzu und schob sich rasch vor das Behältnis, als Tessa die Hand danach ausstreckte. »Die Pyxis darf von niemandem berührt werden, der kein Schattenjägerblut besitzt. Sonst würden einige wirklich unangenehme Dinge passieren. Und jetzt lassen Sie uns gehen — wir haben Thomas schon genügend Zeit geraubt.«
»Das macht mir überhaupt nichts«, protestierte Thomas, doch Will war bereits auf dem Weg zur Tür. Tessa folgte ihm, warf aber vor dem Verlassen der Waffenkammer einen Blick über die Schulter zu Thomas, der sich wieder dem Polieren der Klingen widmete. An der Haltung seine Schultern glaubte sie jedoch zu erkennen, dass er irgendwie einsam wirkte.
»Mir war gar nicht bewusst, dass Sie auch Irdische an Ihrer Seite kämpfen lassen«, wandte sie sich an Will, nachdem er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Ist Thomas ein Dienstbote oder ...«
»Thomas hat fast sein ganzes Leben im Institut verbracht«, erläuterte Will und führte Tessa um eine scharfe Kurve im Korridor. »Es gibt bestimmte Familien, die die Gabe des zweiten Gesichts besitzen, Familien, die schon immer den Schattenjägern gedient haben. Thomas’ Eltern haben Charlottes Eltern hier im Institut gedient und nun dient Thomas Charlotte und Henry. Und seine Kinder werden ihren Kindern dienen. Thomas übernimmt alle möglichen Aufgaben: Er führt die Kutsche, kümmert sich um Balios und Xanthos — unsere Pferde — und hilft bei der Reparatur und Pflege der Waffen. Sophie und Agatha erledigen den Rest, obwohl Thomas ihnen hin und wieder zur Hand geht. Ich vermute ja, dass er eine Schwäche für Sophie hat und nicht möchte, dass sie zu hart arbeitet.«