Tessa war froh, das zu hören. Nach ihrer bestürzten Reaktion auf Sophies Narbe hatte sie sich schrecklich gefühlt und der Gedanke, dass das Mädchen einen männlichen — und noch dazu einen recht ansehnlichen — Verehrer hatte, beruhigte ihr schlechtes Gewissen ein wenig. »Oder er ist in Agatha verliebt«, überlegte sie.
»Das will ich nicht hoffen. Ich beabsichtige nämlich meinerseits, Agatha zu heiraten. Sie mag zwar steinalt sein, aber sie bäckt einen unvergleichlichen Kirschkuchen. Schönheit vergeht, doch die Kochkunst besteht.« Vor einer gewaltigen Eichentür mit schweren Messingscharnieren blieb er stehen. »Da wären wir«, sagte er und drückte die Klinke, worauf die Tür weit aufschwang.
Der dahinterliegende Raum war sogar noch größer als der Ballsaal, den Will Tessa kurz zuvor gezeigt hatte. Lange rechteckige Eichentische erstreckten sich über die gesamte Länge, bis zum anderen Ende, wo das Bildnis eines Engels die Wand schmückte. Auf jedem der Tische spendete eine Glaslampe flackerndes weißes Licht.
Entlang der hohen Wände verlief eine Galerie mit einem Holzgeländer, die über zwei Wendeltreppen links und rechts des Eingangs zu erreichen war. Sowohl auf als auch unterhalb der Galerie standen endlose Reihen von Bücherregalen, die von Säulen eingefasste, geschützte Alkoven auf beiden Seiten des Saals bildeten. Die darin aufbewahrten Bücher waren hinter durchbrochenen Metallgittern verborgen, in deren Mitte jeweils ein Emblem prangte — viermal der Buchstabe C. Zwischen den Bücherregalen luden abgewetzte Steinbänke zum Sitzen ein, hinter denen hohe Erkerfenster mit Buntglasscheiben aufragten. In der Raummitte ruhte ein wuchtiger Wälzer auf einem Pult, dessen aufgeschlagene Seiten Tessa neugierig machten. Sie nahm an, dass es sich wohl um ein Wörterbuch handelte, musste aber feststellen, dass die Seiten mit einer unleserlichen, illuminierten Schrift versehen waren und Radierungen unbekannter Landkarten enthielten.
»Dies ist die Große Bibliothek«, sagte Will. »Jedes Institut besitzt eine Bibliothek, aber diese hier ist die mit Abstand größte — zumindest die größte in der westlichen Hemisphäre.« Mit verschränkten Armen lehnte er sich gegen die Tür. »Ich hatte Ihnen doch versprochen, Ihnen ein paar Bücher zu besorgen, nicht wahr?«
Tessa war derart erstaunt, dass er sich an sein Versprechen erinnerte, dass sie ein paar Sekunden für ihre Antwort benötigte. »Aber diese Bücher stehen alle hinter Schloss und Riegel!«, protestierte sie. »Wie ein Literaturgefängnis!«
Will grinste. »Manche dieser Bücher sind gefährlich. Es empfiehlt sich also, vorsichtig zu sein«, entgegnete er.
»Bei Büchern empfiehlt es sich immer, vorsichtig zu sein«, konterte Tessa, »denn Worte haben die Macht, uns zu verändern.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob mich ein Buch jemals verändert hat«, sinnierte Will. »Nun ja, da gab es eines, das versprach, dem Leser zu zeigen, wie man sich in eine ganze Herde Schafe verwandeln kann ...«
»Nur die Willensschwachen lehnen es ab, sich von Literatur und Poesie beeinflussen zu lassen«, erwiderte Tessa, fest entschlossen, Will keinen Themenwechsel zu gestatten.
»Natürlich stellt sich die Frage, warum man sich überhaupt in eine ganze Schafsherde verwandeln möchte. Aber das steht auf einem anderen Blatt«, schloss Will seine Überlegungen. »Gibt es hier irgendein Buch, das Sie gern lesen würden, Miss Gray? Nennen Sie mir seinen Titel und ich werde versuchen, es für Sie aus seinem Gefängnis zu befreien.«
»Glauben Sie, in dieser Bibliothek lässt sich Die weite, weite Welt finden oder Betty und ihre Schwestern?«
»Habe noch nie davon gehört. Von keinem der beiden Bücher«, erklärte Will. »Wir haben hier aber auch nicht viele Romane.«
»Ich wünsche mir aber Romane«, verkündete Tessa. »Oder Gedichtbände. Bücher zum Lesen und nicht solche, mit denen man sich in eine Viehherde verwandeln kann.«
Wills Augen funkelten. »Ich glaube, wir haben hier irgendwo eine Ausgabe von Alice im Wunderland herumstehen.«
Tessa rümpfte die Nase. »Das ist doch etwas für kleine Kinder, oder nicht?«, widersprach sie. »Dieses Buch hat mir nie sonderlich gefallen — zu viel Unsinn für meinen Geschmack.«
Wills Augen schimmerten in einem sehr dunklen Blau. »Manchmal lässt sich in Unsinn sehr viel Sinn finden — wenn man nur danach sucht.«
Doch Tessa hatte inzwischen ein vertrautes Buch in einem Regal entdeckt und begrüßte es wie einen alten Freund. »Oliver Twist!«, rief sie. »Haben Sie noch irgendwelche anderen Romane von Mr Dickens? Vielleicht Eine Geschichte aus zwei Städten?«
»Diese alberne Erzählung? Von Männern, die sich im Namen der Liebe den Kopf abschlagen lassen? Lächerlich.« Will löste sich von der Tür und schlenderte zu Tessa, die vor den Bücherregalen stand. Mit einer großen Geste deutete er auf die riesige Anzahl von Büchern um ihn herum. »Nein, hier werden Sie nur jede Menge Ratgeber finden, wie man jemand anderem den Kopf abschlägt — falls Sie so etwas einmal benötigen sollten. Also wesentlich nützlichere Lektüre.«
»Nein, das brauche ich nicht!«, protestierte Tessa.
»Jemandem den Kopf abschlagen, meine ich. Und welchem Zweck dient eine umfangreiche Bibliothek, wenn niemand die Bücher lesen will? Haben Sie hier wirklich keine anderen Romane?«
»Nur wenn Lady Audleys Geheimnis darin besteht, dass sie in ihrer Freizeit Dämonen tötet.« Will sprang federnd eine der Leitern hinauf und zog ein Buch aus einem Regal. »Ich suche Ihnen eine andere Lektüre. Hier, fangen Sie.« Ohne sich umzudrehen, ließ er das Buch fallen, und Tessa musste einen Satz machen, um es noch rechtzeitig aufzufangen, bevor es auf dem Boden auftraf.
Der große, fast quadratische Wälzer besaß einen Einband aus dunkelblauem Samt, in den ein Emblem geschnitten war — ein geschwungenes Symbol, das an die Zeichnungen auf Wills Haut erinnerte. Der Schattenjäger-Codex prangte in schweren silberfarbigen Lettern auf der Vorderseite. Tessa schaute zu Will hoch. »Was ist das?«
»Angesichts der Tatsache, dass Sie derzeit in unserem ›Allerheiligstem‹ wohnen, nehme ich an, dass Sie sicherlich eine Menge Fragen zu uns Schattenjägern haben. Dieses Buch müsste Ihnen alles beantworten, was Sie wissen wollen. Es enthält Informationen über uns, unsere Geschichte und sogar über Schattenwesen wie Sie.« Will zog eine ernste Miene. »Aber gehen Sie bitte sehr sorgsam damit um. Dieses Werk ist sechshundert Jahre alt und das einzige noch existierende Exemplar. Beschädigung oder gar Verlust dieses kostbaren Buchs würden mit dem Tode bestraft.«
Tessa stieß den Wälzer von sich, als stünde er in Flammen. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Sie haben recht — das war nur ein Scherz.« Will sprang von der Leiter und landete leichtfüßig direkt vor Tessa. »Aber Sie glauben tatsächlich alles, was ich sage, nicht wahr? Liegt das vielleicht daran, dass ich so ein vertrauenswürdiges Gesicht habe, oder sind Sie eine von der naiven Sorte?«
Statt einer Antwort warf Tessa ihm nur einen finsteren Blick zu und marschierte quer durch den Saal zu einem der Erkerfenster. Dort ließ sie sich auf die Steinbank sinken, schlug den Codex auf und begann zu lesen, wobei sie Will geflissentlich ignorierte — selbst dann noch, als er sich neben sie setzte. Während sie sich ihrer Lektüre widmete, konnte sie seinen durchdringenden Blick spüren.