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Die erste Seite des Nephilim-Buchs zeigte dasselbe Bild, das sie bereits auf zahlreichen Wandteppichen in den Fluren gesehen hatte: ein Engel, der aus einem See aufstieg, ein Schwert in der einen und einen Kelch in der anderen Hand. Darunter stand: »Der Erzengel Raziel und die Engelsinsignien.«

»So hat alles angefangen«, erklärte Will fröhlich, als bemerkte er überhaupt nicht, dass Tessa ihn ignorierte. »Eine Beschwörungsformel hier, ein wenig Engelsblut dort und schon erhält man eine Rezeptur für unzerstörbare menschliche Krieger. Natürlich werden Sie uns niemals verstehen lernen, indem Sie einfach nur ein Buch über uns lesen, aber es ist zumindest ein Anfang.«

»Von menschlich kann wohl kaum die Rede sein — eher wie Racheengel«, sagte Tessa leise, während sie die Seiten umblätterte. Dort waren Dutzende Abbildungen von Engeln zu sehen, die aus dem Himmel herabfielen und dabei Federn versprühten wie die Funken einer Sternschnuppe. Es folgten weitere Illustrationen des Erzengels Razieclass="underline" Er hielt ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, auf dessen Seiten Runen wie Flammen brannten. Mehrere Männer knieten vor ihm — Männer, auf deren Haut tiefschwarze Male zu erkennen waren. Männer wie derjenige, dessen Antlitz Tessa in ihrem Albtraum gesehen hatte, mit fehlenden Augen und zugenähten Lippen. Auf den nächsten Seiten fanden sich Abbildungen von Schattenjägern mit flammenden Schwertern in den Händen, wie himmlische Engelskrieger. Tessa warf Will einen Blick zu.

»Dann sind Sie also tatsächlich der Nachfahre eines Engels? Ein Halbengel?«

Will schwieg und schaute aus dem Fenster, durch die transparente untere Scheibe hindurch. Tessa folgte seinem Blick: Das Fenster musste auf die Vorderseite des Instituts hinausgehen, denn sie erkannte einen runden, von Mauern eingefassten Innenhof. Hinter den Gitterstäben eines hohen Eisentors, das von einem massiven Torbogen eingefasst war, konnte Tessa im Schein der gelblichen Gaslaternen Teile der dahinterliegenden Straße ausmachen. Im oberen Abschnitt des schmiedeeisernen Gitterwerks traten deutlich mehrere geschwungene Lettern zutage, die aus Tessas Position jedoch spiegelverkehrt waren und sich nur mühsam entziffern ließen.

»›Pulvis et umbra sumus.‹ Ein Zitat aus einer Ode von Horaz: ›Staub und Schatten sind wir.‹ Passend, finden Sie nicht auch?«, bemerkte Will. »Als Dämonentöter führt man kein langes Leben; in der Regel sterben wir jung und unser Leichnam wird anschließend verbrannt — Asche zu Asche, im wahrsten Sinne des Wortes. Und danach verschwinden wir in den Schatten der Geschichte, ohne auch nur eine Spur auf den Seiten eines irdischen Buchs zu hinterlassen, das der Welt von unserer einstigen Existenz berichten würde.«

Tessa musterte Will. Auf seinem Gesicht lag wieder dieser Ausdruck, den sie ebenso seltsam wie äußerst faszinierend fand — ein Ausdruck der Belustigung, der jedoch nicht tiefer zu gehen und nur auf seinen Zügen zu ruhen schien. Er wirkte immer, als hielte er alles in der Welt für unendlich amüsant und unendlich tragisch zugleich, und sie fragte sich, was ihn so geformt haben mochte, wieso ihn das Dunkel erheiterte. Denn diese Eigenschaft schien er mit keinem der anderen Schattenjäger zu teilen, die sie kennengelernt hatte. Möglicherweise war dies etwas, das er von seinen Eltern übernommen hatte — oder besaß er vielleicht gar keine Eltern mehr?

»Machen Sie sich niemals Sorgen?«, fragte sie leise. »Sorgen, dass das, was da draußen ist, vielleicht hereinkommen könnte?«

»Sie meinen, Dämonen und andere Unannehmlichkeiten?«, fragte Will, obwohl Tessa sich nicht sicher war, ob sie das gemeint hatte oder eher die Übel der Welt im Allgemeinen. Will legte eine Hand auf die Mauer. »Der Mörtel, mit dem dieses Mauerwerk errichtet wurde, ist mit Schattenjägerblut vermischt. Jeder einzelne Balken ist aus Ebereschenholz geschlagen, jeder verwendete Nagel aus Silber, Eisen oder Elektrum geschmiedet. Das gesamte Gelände wurde auf heiligem Grund errichtet und ist von Schutzschilden umgeben. Und die Eingangstür kann nur von jemandem geöffnet werden, der Schattenjägerblut besitzt — für alle anderen bleibt sie auf ewig verschlossen. Dieses Institut ist eine Festung. Daher kann ich Ihre Frage mit Nein beantworten. Nein, ich mache mir keine Sorgen.«

»Aber warum leben Sie in dieser Festung?«

Als Will ihr einen überraschten Blick zuwarf, erläuterte Tessa ihre Frage: »Sie sind ganz eindeutig nicht mit Charlotte und Henry verwandt. Die beiden sind auch nicht alt genug, Ihre Adoptiveltern sein zu können. Und offensichtlich müssen nicht alle Schattenjägerkinder hier wohnen, denn sonst wären hier ja viel mehr anwesend als nur Sie und Jessamine ...«

»Und Jem«, erinnerte Will Tessa.

»Ja. Aber Sie verstehen doch sicher, was ich meine. Warum leben Sie nicht bei Ihrer Familie?«

»Keiner von uns hat noch eine Familie. Jessamines Eltern starben bei einem Feuer, Jems Eltern ... nun ja, Jem ist von sehr weit weg hierher gekommen, nachdem seine Eltern von einem Dämon getötet wurden. Es obliegt den gesetzlichen Pflichten des Rates, sich um elternlose Schattenjägerkinder zu kümmern, zumindest bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs.«

»Dann sind Sie sich also gegenseitig eine Familie.«

»Wenn Sie das unbedingt in solch einem romantischen Licht sehen wollen ... Aber vermutlich könnte man tatsächlich behaupten, dass wir eine Familie sind — allesamt Brüder und Schwestern unter dem Dach des Instituts. Dasselbe gilt übrigens für Sie, Miss Gray, wenn auch nur vorübergehend.«

»In diesem Fall ...«, setzte Tessa an und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, »in diesem Fall würde ich es vorziehen, wenn Sie mich mit meinem Vornamen ansprechen würden, genau wie Miss Lovelace.«

Will betrachtete sie mit einem prüfenden Blick und lächelte dann, wobei seine blauen Augen aufleuchteten. »Dann müssen Sie mir ebenfalls diese Ehre erweisen«, sagte er. »Tessa.«

Tessa hatte nie viel über ihren Namen nachgedacht, aber als Will ihn nun aussprach, schien es ihr, als würde sie ihn zum ersten Mal hören: das harte T, das sanfte Streicheln des doppelten S, die Art und Weise, wie er ihren Namen in einem ausgehauchten Laut enden ließ. Und ihr eigener Atem ging sehr flach, als sie leise erwiderte: »Will.«

»Ja?« Belustigung blitzte in seinen Augen auf. Mit Entsetzen registrierte Tessa, dass sie seinen Namen einfach nur um seiner selbst willen gesagt hatte und nicht, weil sie eine Frage hatte. Hastig fügte sie hinzu: »Wo haben Sie ... hast du gelernt, so zu kämpfen? Diese magischen Symbole zu zeichnen und all die anderen Dinge?«

Will lächelte. »Bis vor Kurzem hatten wir einen Hauslehrer, der für unsere schulische Ausbildung und unser Training verantwortlich war. Aber er ist nach Idris zurückgekehrt und Charlotte sucht zurzeit nach einem Ersatz für ihn. Außerdem erhalten wir Unterricht von Charlotte, die die Fächer Geschichte und antike Sprachen übernommen hat.«

»Dann ist sie also eure Gouvernante?«

Ein Ausdruck sardonischer Belustigung huschte über Wills Züge. »Wenn man so will. Doch an deiner Stelle würde ich sie nicht als Gouvernante bezeichnen — nicht, wenn dir deine Gliedmaßen lieb sind. Man sollte es zwar nicht meinen, aber unsere Charlotte ist ziemlich erfahren im Umgang mit einer ganzen Reihe von Waffen.«

Tessa blinzelte verwundert. »Du meinst damit doch nicht, dass ... dass Charlotte tatsächlich kämpft? Jedenfalls nicht so wie du und Henry, oder?«

»Aber natürlich. Warum sollte sie auch nicht?«

»Weil sie eine Frau ist«, sagte Tessa.

»Das war Boadicea auch.«

»Wer?«

»›Dies rief Königin Boadicea, hoch auf ihrem Streitwagen, den Pfeil in der Hand, mit rollenden Augen und lauter Stimme ...‹«, rezitierte Will und brach ab, als er Tessas verständnislosen Blick sah. »Das sagt dir nichts?«, fragte er grinsend. »Wenn du Engländerin wärst, würdest du sie kennen. Erinnere mich daran, dass ich dir ein Buch über sie heraussuche. Na, jedenfalls war Boadicea eine mächtige Königin und Heerführerin, und als sie sich den Römern schließlich geschlagen geben musste, nahm sie lieber Gift, als in Gefangenschaft zu gehen. Sie war mutiger als alle Männer. Ich stelle mir Charlotte gern als ähnliche, wenn auch etwas kleinere Kriegerin vor — aus dem gleichen Holz geschnitzt.«