»Aber sie kann nicht besonders gut darin sein, oder? Ich meine, Frauen verspüren doch nicht diese Sorte von Gefühlen.«
»Welche Sorte von Gefühlen?«
»Blutrunst, vermute ich mal«, erwiderte Tessa nach kurzem Nachdenken. »Grimmige Entschlossenheit. Nun ja, Kriegergefühle.«
»Ich habe gesehen, wie du diese Metallsäge gegen die Dunklen Schwestern geschwungen hast«, entgegnete Will. »Und wenn ich mich richtig entsinne, dann bestand Lady Audleys Geheimnis darin, dass sie eine Mörderin war.«
»Dann hast du das Buch also doch gelesen!« Tessa konnte ihre Freude nicht verbergen.
Will musterte sie amüsiert. »Ich bevorzuge Braddons Die Spur der Schlange. Mehr Abenteuer und weniger bürgerliches Drama. Aber keiner dieser Romane ist so gut wie Der Monddiamant. Hast du schon mal etwas von Collins gelesen?«
»Ich verehre Wilkie Collins«, quietschte Tessa.
»Oh — Der rote Schal! Und Die weiße Frau ... Lachst du über mich?«
»Nein, nicht über dich«, erwiderte Will grinsend,
»eher wegen dir. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der sich so für Bücher begeistern kann. Man könnte glauben, es handele sich um Juwelen.«
»Nun ja, das sind sie ja auch, oder nicht? Gibt es denn irgendetwas, das du so sehr liebst? Und jetzt sage nicht ›Gamaschen‹ oder ›Rasentennis‹ oder etwas ähnlich Albernes.«
»Gütiger Gott«, stieß er mit gespieltem Entsetzen hervor, »es scheint, als würde sie mich bereits durch und durch kennen.«
»Jeder Mensch hat irgendetwas, ohne das er nicht leben kann. Ich werde schon noch herausfinden, was es bei dir ist, keine Sorge.« Eigentlich hatten ihre Worte leichthin klingen sollen, doch der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ Tessa unsicher werden und verstummen. Will betrachtete sie mit einem seltsam unverwandten Blick; seine Augen leuchteten im selben Dunkelblau wie der Samteinband des Buchs in ihrer Hand. Dann wanderte sein Blick weiter — über ihr Gesicht, hinunter zur Kehle und bis zur Taille, ehe er zu ihrem Gesicht zurückkehrte und auf ihren Lippen verweilte. Tessas Herz schlug so wild, als wäre sie eine Treppe hinauf-gestürmt. Irgendetwas in ihrer Brust schmerzte, als hätte sie großen Hunger oder Durst. Da war irgendetwas, das sie sich sehnlich wünschte, das sie wollte und wovon sie doch nicht genau wusste, was es war ...
»Es ist schon spät«, sagte Will abrupt und wandte den Blick ab. »Ich sollte dich zu deinem Zimmer bringen.«
»Ich ...« Tessa wollte protestieren, aber dazu bestand überhaupt kein Grund. Will hatte recht. Es war tatsächlich spät geworden, und durch die klaren Scheiben des Erkerfensters erkannte man bereits die nadelförmigen Lichter der ersten Sterne. Tessa erhob sich, drückte das schwere Buch an ihre Brust und folgte Will hinaus in den Flur.
»Es gibt da ein paar Tricks zur besseren Orientierung im Institut, die ich dir unbedingt beibringen sollte«, sagte er, den Blick weiterhin abgewandt. Seine Haltung strahlte nun etwas merkwürdig Scheues aus, das wenige Augenblicke zuvor noch nicht da gewesen war — als hätte Tessa ihn durch irgendetwas gekränkt. Aber was konnte sie falsch gemacht haben?
»Mittel und Wege, die verschiedenen Flure und Türen voneinander zu unterscheiden ...«
Als er verstummte, sah Tessa, dass jemand durch den Korridor auf sie zukam. Es war Sophie, mit einem Wäschekorb unter dem Arm.
Sie bemerkte Will und Tessa und blieb stehen, wobei ein vorsichtiger Ausdruck in ihre Augen schlich.
»Sophie!« Wills Zurückhaltung verwandelte sich in Übermut. »Hast du mein Zimmer schon aufgeräumt?«
»Es ist fertig«, sagte Sophie, ohne sein Lächeln zu erwidern. »Es war richtig schmutzig. Ich hoffe, dass Sie es in Zukunft unterlassen werden, Reste toter Dämonen durchs ganze Haus zu tragen.«
Tessa starrte sie mit offenem Mund an. Wie konnte Sophie es wagen, in diesem Ton mit Will zu reden? Schließlich war sie ein Dienstmädchen und er ein Gentleman, ob er nun jünger war als sie oder nicht. Dennoch schien Will keinen Anstoß daran zu nehmen. »Das gehört alles zum Job, kleine Sophie.«
»Mr Branwell und Mr Carstairs scheinen aber kein Problem damit zu haben, sich bei der Heimkehr die Schuhe abzuputzen«, entgegnete Sophie und schaute finster von Will zu Tessa und wieder zurück. »Vielleicht können Sie sich ja an ihnen ein Beispiel nehmen.«
»Ja, vielleicht«, erwiderte Will. »Aber ich bezweifle es.«
Sophies Miene verdüsterte sich noch mehr; dann marschierte sie weiter, die Schultern vor Empörung hochgezogen.
Verwundert schaute Tessa Will an. »Was war denn das?«
Will zuckte träge die Achseln. »Sophie gefällt es, so zu tun, als würde sie mich nicht mögen.«
»Dich nicht mögen? Sie hasst dich!« Unter anderen Umständen hätte sie Will vielleicht gefragt, ob er und Sophie sich entzweit hatten, aber man entzweite sich nicht mit Dienstboten. Wenn diese nicht den Erwartungen entsprachen, verzichtete man einfach auf eine weitere Anstellung. »Ist ... ist zwischen euch irgendetwas vorgefallen?«
»Tessa«, sagte Will übertrieben geduldig. »Genug. Es gibt Dinge, die du nicht einmal ansatzweise verstehen könntest.«
Wenn es irgendetwas gab, das Tessa aus ganzem Herzen hasste, dann war es solch eine Reaktion — wenn man ihr sagte, dass es Dinge gäbe, die sie nicht verstehen könne. Weil sie zu jung sei, weil sie ein Mädchen sei oder aus sonst irgendeinem der tausend Gründe, die für sie alle keinen Sinn ergaben. Trotzig schob sie das Kinn vor. »Nein, natürlich nicht, solange du es mir nicht erklärst. Und in diesem Fall muss ich sagen: Es sieht ganz danach aus, dass sie dich hasst, weil du ihr etwas Schreckliches angetan hast.«
Wills Miene verdüsterte sich. »Du kannst von mir aus denken, was du willst. Es ist ja nicht so, als ob du irgendetwas über mich wissen würdest.«
»Ich weiß, dass du auf Fragen nicht gern klare Antworten gibst. Ich weiß, dass du ungefähr siebzehn Jahre alt sein musst. Ich weiß, dass du Tennyson magst — du hast ihn im Dunklen Haus zitiert und eben schon wieder. Ich weiß, dass du eine Waise bist, genau wie ich ...«
»Ich habe nie behauptet, dass ich eine Waise wäre«, entgegnete Will unerwartet heftig. »Und ich verabscheue Poesie. Das bedeutet dann wohl, dass du in Wirklichkeit überhaupt nichts über mich weißt, oder?« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.
5
Der Schattenjäger-Codex
Tessa wanderte eine halbe Ewigkeit von einem dämmrigen Flur zum nächsten, bis sie zufällig einen Riss in einem der endlosen Wandteppiche wiedererkannte und ihr klar wurde, dass ihr Zimmer von diesem Korridor abgehen musste. Wenige Minuten später, nachdem sie mehrere Türen überprüft hatte, schloss sie dankbar ihre eigene Zimmertür hinter sich und schob den Riegel vor.
Sobald sie ihr Nachthemd angezogen hatte und unter die Bettdecke geschlüpft war, schlug sie den Schattenjäger-Codex auf und begann mit der Lektüre. »Natürlich werden Sie uns niemals verstehen lernen, indem Sie einfach nur ein Buch über uns lesen«, hatte Will gesagt, aber darum ging es nicht. Er wusste nicht, was Bücher für sie bedeuteten ... dass Bücher Symbole für Wahrheit und Sinn waren ... dass dieses hier ihre Existenz bestätigte und die weiterer ihrer Art. Die Tatsache, dass sie dieses Buch in den Händen hielt, gab ihr die Gewissheit, dass alle schrecklichen Geschehnisse der vergangenen sechs Wochen tatsächlich real gewesen waren — und ihr jetzt sogar noch realer erschienen als zur Zeit ihres tatsächlichen Martyriums. Aus dem Codex lernte Tessa, dass alle Schattenjäger von einem Erzengel namens Raziel abstammten, der dem ersten der Nephilim einen Band mit dem Titel »Das Graue Buch« überreicht hatte. Das Graue Buch war in der »Sprache des Himmels« geschrieben — denselben schwarzen Runenmalen, die Charlotte und Will auf der Haut trugen. Diese Zeichnungen wurden mithilfe einer sogenannten »Stele« in die Haut aller ausgebildeten Schattenjäger geritzt — Tessa erinnerte sich an das seltsame griffelähnliche Objekt, das Will im Dunklen Haus zum Öffnen einer Tür benutzt hatte. Die Male boten den Nephilim alle möglichen Formen von Schutz: schnelle Heilung, Stärke und Schnelligkeit, Nachtsicht und sogar die Möglichkeit, sich mithilfe einer Rune namens »Zauberglanz« vor Irdischen unsichtbar zu machen. Doch sie standen nicht jedermann zur freien Verfügung: Versah man einen Menschen oder einen Schattenweltler mit einem dieser Male, hatte das unerträgliche Schmerzen zur Folge, die den Betreffenden letztendlich in den Wahnsinn oder sogar in den Tod trieben.