»Nein, daran liegt es nicht. Ich habe vielmehr die Befürchtung, dass Will wütend auf mich ist«, erklärte Tessa. »Also, was auch immer er Ihnen erzählt haben mag . .«
Der Junge lachte. »Will ist auf die ganze Welt wütend«, erwiderte er. »Aber dadurch lasse ich mich nicht in meinem Urteil beeinflussen.« Das Mondlicht spiegelte sich auf der glänzenden Oberfläche der Geige, als er das Instrument zusammen mit dem Bogen auf einen hohen Schrank legte. Dann wandte er sich wieder Tessa zu. »Ich hätte mich Ihnen schon eher vorstellen sollen«, sagte er lächelnd. »Mein Name ist James Carstairs. Aber bitte nennen Sie mich Jem — alle nennen mich so.«
»Oh, Sie sind Jem. Sie waren nicht beim Abendessen«, bemerkte Tessa. »Charlotte meinte, Sie seien krank. Geht es Ihnen besser?«
Jem zuckte die Achseln. »Ich war nur müde, das ist schon alles.«
»Nun ja, das kann ich mir gut vorstellen, dass Sie nach den vielen Aufgaben, die Sie alle zu erledigen haben, ziemlich müde sein müssen.« Nach der Lektüre des Codex brannte Tessa förmlich darauf, ihm weitere Fragen über die Nephilim zu stellen. »Will meinte, Sie wären aus einem fernen Land nach London gekommen ... Haben Sie vorher in Idris gelebt?«
Erstaunt hob Jem die Augenbrauen. »Sie wissen von Idris?«
»Oder waren Sie vielleicht in einem anderen Institut? Die gibt es in jeder größeren Stadt, nicht wahr? Und warum sind Sie nach London gekommen ...?«
Verwirrt hob Jem eine Hand und unterbrach Tessa.
»Sie stellen ziemlich viele Fragen, finden Sie nicht?«
»Mein Bruder pflegte immer zu sagen, Neugierde sei eine meiner hartnäckigsten Untugenden.«
»Von allen Untugenden ist sie jedoch bei Weitem nicht die schlimmste.« Jem ließ sich auf der Koffertruhe am Fuß des Betts nieder und betrachtete Tessa mit ruhigem Interesse. »Dann legen Sie mal los: Fragen Sie mich, was immer Sie wollen. Ich kann ohnehin nicht schlafen und mir ist jede Form von Ablenkung willkommen.«
Sofort hörte Tessa Wills Stimme in ihrem Hinterkopf: Jems Eltern waren von Dämonen getötet worden. Aber dazu kann ich ihn unmöglich befragen, überlegte Tessa und antwortete stattdessen: »Will hat mir erzählt, dass Sie von sehr weit her kommen. Wo haben Sie denn vorher gelebt?«
»In Shanghai«, sagte Jem. »Wissen Sie, wo das liegt?«
»In China«, erwiderte Tessa, mit leichter Entrüstung in der Stimme. »Weiß das nicht jedes Kind?«
Jem grinste. »Sie wären überrascht.«
»Und was haben Sie in China gemacht?«, fragte Tessa, aufrichtig interessiert. Sie konnte sich einfach keine Vorstellung davon machen, woher Jem genau stammte. Beim Gedanken an China fielen ihr nur Bilder von Marco Polo und von Tee ein. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Ort sehr, sehr weit entfernt lag, als wäre Jem vom anderen Ende der Welt gekommen.
»Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen«, hätte ihre Tante Harriet dazu gesagt. »Ich dachte, bis auf Missionare und Seeleute würde niemand dorthin reisen«, fügte sie hinzu.
»Schattenjäger leben über die ganze Welt verteilt. Meine Mutter war Chinesin, mein Vater Engländer. Sie haben sich in London kennengelernt und sind nach Shanghai gezogen, als ihm die Leitung des dortigen Instituts angeboten wurde.«
Tessa war verwirrt. Wenn Jems Mutter Chinesin gewesen war, dann war er ein Halbchinese, oder nicht? Die meisten chinesischen Einwanderer, die sie aus New York kannte, hatten in Wäschereien gearbeitet oder handgerollte Zigarren an Straßenständen verkauft, aber keiner von ihnen hatte Jem mit seinem seltsamen silberweißen Haar und den hellen Augen auch nur im Entferntesten ähnlich gesehen. Vielleicht hing das ja damit zusammen, dass er ein Schattenjäger war, überlegte sie. Allerdings wollte ihr partout kein Weg einfallen, wie sie ihn danach fragen konnte, ohne schrecklich unhöflich zu wirken.
Glücklicherweise schien Jem nicht darauf zu warten, dass sie das Gespräch fortsetzte. »Bitte entschuldigen Sie meine Frage, aber ... Ihre Eltern sind tot, nicht wahr?«, fragte er.
»Hat Will Ihnen das erzählt?«
»Das braucht er gar nicht. Wir Waisenkinder lernen schnell, einander zu erkennen. Wenn ich mir die Frage erlauben darf: Waren Sie sehr jung, als es geschah?«
»Ich war drei, als sie bei einem Kutschenunfall starben. Aber ich kann mich kaum noch an sie erinnern.« Nur in kurzen Erinnerungsfetzen: der Duft von Tabakrauch oder das fliederfarbene Kleid meiner Mutter. »Meine Tante hat mich großgezogen. Und meinen Bruder, Nathaniel. Aber meine Tante ...« Zu Tessas eigener Überraschung spürte sie plötzlich einen Kloß im Hals. Vor ihrem inneren Auge tauchte das deutliche Bild ihrer Tante auf, wie sie in ihrem schmalen Messingbett gelegen hatte, mit fiebrig glänzenden Augen. Und wie sie Tessa kurz vor ihrem Ende nicht mehr erkannt und mit ihrer Mutter Elizabeth verwechselt hatte. Tante Harriet war die einzige Mutter gewesen, die Tessa je gekannt hatte. Tessa hatte ihr auf dem Sterbebett die schmächtige Hand gehalten, damals in dem kleinen Zimmer, zusammen mit dem Priester. Sie erinnerte sich daran, wie sie nach Harriets Tod gedacht hatte, dass sie nun wirklich allein war.
»Meine Tante ist vor Kurzem gestorben. Ein Fieber hat sie unerwartet hinweggerafft. Allerdings hatte sie sich nie bester Gesundheit erfreut.«
»Es tut mir leid, das zu hören«, sagte Jem und klang aufrichtig teilnahmsvoll.
»Das war eine schlimme Zeit für mich ... auch weil mein Bruder bereits abgereist war. Er hatte sich einen Monat zuvor auf die Überfahrt nach England begeben. Zunächst hat er uns sogar noch Geschenke nach Hause geschickt — Tee von Fortnum & Mason und Pralinen. Als Tante Harriet krank wurde und schließlich starb, habe ich ihm wieder und wieder geschrieben, doch meine Briefe kamen ungeöffnet zurück. Ich war vollkommen verzweifelt. Und dann traf eines Tages der Fahrschein ein. Ein Fahrschein für die Überfahrt nach Southampton, auf einem Dampfer. Dem Brief lag eine kurze Nachricht von Nate bei, in der er mir mitteilte, dass er mich in Southampton am Kai abholen würde, weil ich bei ihm in London leben solle, nun, da unsere Tante gestorben sei. Allerdings bin ich inzwischen nicht mehr davon überzeugt, dass diese Nachricht tatsächlich von ihm verfasst wurde ...«
Tessa verstummte; Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Bitte entschuldigen Sie, ich plappere vor mich hin. Sie müssen sich das nicht alles anhören.«
»Was für eine Sorte Mann ist Ihr Bruder? Wie ist er so?«
Tessa schaute Jem leicht verwundert an. Die anderen hatten sie gefragt, wie Nate in diese Situation geraten sein könnte und ob sie wüsste, wo die Dunklen Schwestern ihn versteckt halten würden, und ob er dieselbe Fähigkeit besaß wie sie. Aber niemand hatte wissen wollen, was für ein Mensch er war. »Tante Harriet pflegte immer zu sagen, er sei ein Träumer«, erklärte Tessa schließlich. »Er war mit dem Kopf ständig woanders. Und er interessierte sich nicht dafür, wie die Welt tatsächlich war, sondern nur dafür, wie sie in ferner Zukunft sein würde — eines Tages, wenn er alles hatte, was er sich wünschte. Wenn wir alles hatten, was wir uns wünschten«, berichtigte sie sich. »Er hat regelmäßig gespielt. Meiner Ansicht nach konnte er sich nicht vorstellen zu verlieren — das passte einfach nicht in seine Träume.«
»Träume können manchmal gefährlich sein.«
»Nein ... nein, ich habe mich nicht richtig ausgedrückt.« Tessa schüttelte den Kopf. »Er war ein wunderbarer Bruder. Er ...« Charlotte hatte recht: Es war tatsächlich leichter, die Tränen zu unterdrücken, wenn es einem gelang, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, den Blick auf irgendetwas zu heften. Angestrengt schaute Tessa auf Jems Hände. Schlanke, elegante Hände, mit derselben Zeichnung auf dem Handrücken wie Will. Sie zeigte auf das weit geöffnete Auge.
»Was soll das bewirken?«
Jem schien der abrupte Themenwechsel nicht zu stören. »Das ist ein Runenmal. Ist Ihnen der Begriff bekannt?« Er hielt ihr die Hand entgegen. »Dieses Mal heißt Voyance. Es schärft unseren Blick, sodass wir die Schattenwelt sehen können.« Dann drehte er die Handfläche nach oben und zog den Ärmel seines Hemdes zurück. Zwischen Handgelenk und Ellbogenbeuge befanden sich weitere Male, die sich schwarz von seiner blassen Haut abhoben. Sie schienen mit dem Geflecht seiner Adern zu verschmelzen, als würde sein Blut durch die Zeichnungen fließen. »Diese hier bedeuten Schnelligkeit, Nachtsicht, Engelskraft und rasche Heilung«, erklärte er die Runen. »Obwohl ihre Namen eigentlich komplizierter sind.«