»Dann hol ich es dir schnell.« Nie zuvor hatte Tessa Will mit einer derart sanften Stimme reden hören.
»Rühr dich nicht von der Stelle.«
»Als ob ich irgendwohin gehen könnte.« Jem wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und hinterließ rote Streifen auf dem Voyance-Mal.
Will richtete sich auf, drehte sich um ... und sah Tessa an. Einen Moment lang wirkte er aufrichtig überrascht, als hätte er ihre Anwesenheit völlig vergessen.
»Will ...«, flüsterte sie. »Gibt es irgendetwas ...«
»Komm mit«, sagte er, nahm sie am Arm und führte sie mit sanftem Druck zur offenen Tür. Dann schob er sie in den Flur und versperrte mit seinem Körper den Weg ins Zimmer. »Gute Nacht, Tessa.«
»Aber er hat Blut gespuckt«, protestierte Tessa mit leiser Stimme. »Vielleicht sollte ich Charlotte holen ...«
»Nein.« Will warf einen Blick über die Schulter und schaute dann wieder zu Tessa. Langsam beugte er sich vor, seine Hand noch immer auf ihrer Schulter. Tessa spürte, wie sich seine Finger in ihre Muskulatur pressten. Sie waren so nah, dass sie den Geruch der Nacht auf seiner Haut riechen konnte — eine Mischung aus Metall, Rauch und Nebel. Irgendetwas an ihm roch seltsam, aber sie konnte nicht genau sagen, was es war.
»Jem hat ein Arzneimittel, das ich ihm geben werde«, sagte Will mit gesenkter Stimme. »Charlotte braucht davon nichts zu erfahren.«
»Aber wenn er doch krank ist ...«
»Bitte, Tessa.« Ein flehentliches Drängen sprach aus Wills blauen Augen. »Es wäre besser, wenn du es für dich behalten würdest.«
Aus irgendeinem Grund konnte Tessa ihm die Bitte nicht abschlagen. »Ich ... also gut.«
»Danke.« Will gab ihre Schulter frei, hob die Hand und berührte ihre Wange — so leicht, dass Tessa sich nicht sicher war, ob sie sich die Berührung nicht eingebildet hatte.
Zu verblüfft für eine Reaktion, sah sie stumm mit an, wie Will die Tür schloss. Als sie hörte, wie er von innen den Riegel vorschob, wurde ihr mit einem Mal bewusst, was ihr an seinem Geruch seltsam erschienen war: Obwohl Will behauptet hatte, er habe den ganzen Abend getrunken — und sogar einen Krug Gin über den Kopf bekommen hatte —, hing nicht der geringste Hauch von Alkohol in seiner Kleidung.
Es dauerte sehr lange, bis Tessa in dieser Nacht wieder Schlaf finden konnte. Sie lag hellwach im Bett, den Codex aufgeschlagen neben sich und den Klockwerk-Engel leise tickend auf ihrer Brust, während das Licht der Straßenlaterne flackernde Muster an die Zimmerdecke malte.
Am nächsten Morgen betrachtete Tessa sich selbst im Spiegel der Frisierkommode, während Sophie die Knöpfe im Rücken ihres Kleides schloss. Im frühen Morgenlicht, das durch die hohen Fenster fiel, wirkte sie sehr blass und die dunklen Ringe unter ihren Augen traten deutlich zutage.
Tessa hatte nie zu den Mädchen gezählt, die sich stundenlang vor dem Spiegel drehten und wendeten. In der Regel genügte ihr ein rascher Blick, um sich zu vergewissern, dass ihre Haare nicht wirr abstanden und sie keine Flecken auf der Kleidung hatte. Doch jetzt konnte sie kaum die Augen von dem hageren blassen Gesicht im Spiegel abwenden. Es schien, als würde die Oberfläche Wellen werfen wie eine Reflexion auf einer Wasseroberfläche — oder wie bei den Vibrationen, die sie kurz vor einer Verwandlung erfassten. Nun, da sie andere Gesichter gehabt und durch andere Augen geschaut hatte, wie konnte sie da sicher sein, dass dieses Antlitz tatsächlich ihr eigenes war — selbst wenn es sich um dasjenige handelte, das sie seit ihrer Geburt besaß? Und wenn sie sich rückverwandelte, woher sollte sie da wissen, dass nicht doch eine winzige Kleinigkeit anders geblieben war — etwas, das sie zu einem anderen Mädchen machte als dasjenige, das sie zuvor gewesen war? Oder spielte ihr Äußeres überhaupt keine Rolle? War ihr Gesicht nicht mehr als eine Maske aus Haut und Muskeln, die nichts mit ihrem wahren Ich zu tun hatte?
Tessa konnte auch Sophies Reflexion im Spiegel erkennen. Sie hatte das Gesicht so gedreht, dass Tessa ihre vernarbte Wange deutlich sah — die Wange, die bei Tageslicht noch viel schlimmer aussah als bei ihrer ersten Begegnung. Der Anblick erinnerte Tessa an ein wunderschönes Gemälde, das jemand mit einem Messer mutwillig zerschlitzt hatte. Alles in ihr drängte danach, das Mädchen zu fragen, wie es dazu gekommen war. Doch Tessa wusste, dass sie diese Frage nicht stellen durfte. Stattdessen sagte sie: »Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du mir beim Ankleiden hilfst.«
»Stets zu Diensten, Miss«, erwiderte Sophie mit ausdrucksloser Stimme.
»Ich wollte dich bloß fragen ...«, setzte Tessa an. Sophie erstarrte. Sie denkt, ich würde sie zu ihrem Gesicht befragen, schoss es Tessa durch den Kopf und fuhr dann laut fort: »Die Art und Weise, wie du gestern Abend mit Will im Flur gesprochen hast ...«
Sophie lachte — kurz, aber aufrichtig. »Es ist mir gestattet, mit Mr Herondale zu reden, wie und wann ich will. Das war eine meiner Bedingungen bei meiner Anstellung in diesem Haus.«
»Charlotte hat dich Bedingungen aufstellen lassen?«
»Hier im Institut kann nicht jeder arbeiten«, erklärte Sophie. »Man muss das zweite Gesicht haben. Agatha hat diese Gabe und Thomas ebenfalls. Als Mrs Branwell erfuhr, dass auch ich das zweite Gesicht besitze, wollte sie mich sofort einstellen. Sie meinte, sie würde schon seit einer halben Ewigkeit nach einer Zofe für Miss Jessamine suchen. Allerdings warnte sie mich vor Mr Herondale und meinte, er würde sich mir gegenüber vermutlich grob und zu vertraulich verhalten. Und sie fügte hinzu, ich dürfte genauso unhöflich zu ihm sein; niemand würde daran Anstoß nehmen.«
»Irgendjemand muss ja unhöflich zu ihm sein. Schließlich verhält er sich gegenüber allen anderen sehr ungehobelt.«
»Ich wette, dass Mrs Branwell etwas Ähnliches gedacht hat.« Sophie schenkte Tessa über den Spiegel ein verschmitztes Grinsen.
Sie war unglaublich hübsch, wenn sie lächelte, dachte Tessa, ob nun mit oder ohne Narbe. »Du magst Charlotte, stimmt’s?«, fragte sie. »Sie scheint wirklich nett zu sein.«
Sophie zuckte die Achseln. »Bei meiner vorigen Stelle hat Mrs Atkins — das war die Haushälterin — über jede Kerze und jedes Stückchen Seife, das wir benutzten, Buch geführt. Wir mussten die Seife bis zum letzten Fitzelchen aufbrauchen, ehe sie uns ein neues Stück gab. Aber Mrs Branwell gibt mir neue Seife, wann immer ich es möchte.« Sie betonte den letzten Satz, als wäre er ein klares Zeugnis für Charlottes guten Charakter.
»Vermutlich verfügt das Institut über viel Geld.«
Tessa dachte an die prachtvollen Möbel und die allgemeine Grandezza des Gebäudes.
»Ja, vielleicht. Aber ich habe schon genügend Kleider für Mrs Branwell geändert, um zu wissen, dass sie sie nicht neu kauft.«
Tessa erinnerte sich an das blaue Gewand, das Jessamine am Abend zuvor beim Dinner getragen hatte.
»Und was ist mit Miss Lovelace?«
»Sie verfügt über eigene Mittel«, erwiderte Sophie vage und trat dann einen Schritt zurück. »So. Jetzt können Sie sich sehen lassen.« Tessa lächelte. »Vielen Dank, Sophie.«
Als Tessa das Speisezimmer betrat, waren die anderen schon fast mit dem Frühstück fertig. Charlotte saß in einem schlichten grauen Kleid am Tisch und strich Marmelade auf einen Toast; Henry hockte halb verborgen hinter seiner Zeitung und Jessamine löffelte zierlich eine Schüssel Haferbrei. Will dagegen hatte seinen Teller mit Eiern und Speck vollgehäuft und schaufelte sich unermüdlich durch den Berg — was Tessa recht ungewöhnlich erschien für jemanden, der behauptete, die halbe Nacht getrunken zu haben.
»Wir haben gerade von Ihnen gesprochen«, sagte Jessamine, als Tessa sich setzte. Sie schob eine silberne Servierplatte quer über den Tisch. »Etwas Toast?«
Tessa schaute nervös in die Runde. »Worum ging es denn dabei?«
»Natürlich darum, was wir mit Ihnen anstellen sollen. Schattenweltler können nicht auf ewig im Institut wohnen«, erwiderte Will. »Ich schlage ja vor, wir verkaufen sie an die Zigeuner in Hampstead Heath«, wandte er sich an Charlotte. »Dem Vernehmen nach erwerben diese nicht nur Pferde, sondern auch überzählige Frauen.«