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»Du meine Güte«, flötete Tessa, an Wills Hinterkopf gerichtet. »Wenn du dich weiterhin mit SechsFinger-Nigel triffst, wird er erwarten, dass du dich ihm bald erklärst«, säuselte sie, woraufhin Jem sich fast an seinem Tee verschluckte.

Der Tag in Jessamines Begleitung begann so schrecklich, wie Tessa befürchtet hatte. Der Verkehr war einfach grauenvoll. So überfüllt ihr New York oft erschienen sein mochte — der dortige Verkehr war nichts im Vergleich zu dem tosenden Chaos, das zur Mittagszeit auf dem Strand herrschte: Kutsche auf Kutsche rollte durch die enge Straße und dazwischen drängten sich schwerfällige Handkarren, hoch mit Obst und Gemüse beladen. Frauen unterschiedlichen Alters, in Umhängetücher gehüllt und mit flachen Blumenkörben in den Händen, stürzten sich selbstmörderisch in den Verkehr, im Versuch, die Insassen der hochherrschaftlichen Pferdegespanne für ihre Waren zu interessieren. Und immer wieder musste eine Droschke plötzlich mitten auf der Straße anhalten, wodurch der Verkehr noch stärker ins Stocken geriet und was andere Droschkenkutscher dazu veranlasste, lauthals wüste Verwünschungen auszustoßen. Dieses Geschrei mischte sich mit dem ohnehin schon grässlichen Getöse aus Eisverkäufern, Zeitungsjungen mit den neuesten Schlagzeilen und dem gelegentlichen Spiel eines Leierkastenmanns. Tessa fragte sich, wieso die Bewohner Londons bei diesem Lärm nicht längst taub geworden waren.

Während sie aus dem Fenster schaute, schlurfte eine alte Frau vom Gehweg herunter auf die Kutsche zu; in den knorrigen Händen hielt sie einen großen Metallkäfig mit wild flatternden, schillernden Vögeln. Als die Frau den Kopf drehte, sah Tessa, dass ihre Haut so grün schimmerte wie Papageienfedern und dass sie statt Haaren einen bunten Federschopf auf dem Kopf trug. Aus nachtschwarzen Vogelaugen blickte sie in die Kutsche. Tessa zuckte erschrocken zurück und Jessamine, die ihrem Blick folgte, runzelte die Stirn.

»Schließen Sie die Vorhänge«, sagte sie. »Das hält uns den Schmutz vom Hals.« Damit beugte sie sich an Tessa vorbei zum Fenster und zog die Vorhänge eigenhändig zu.

Tessa betrachtete das Mädchen: Jessamine hatte die schmalen Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. »Haben Sie das gesehen ...?«, setzte Tessa an.

»Nein«, erwiderte Jessamine schroff und warf Tessa einen Blick zu, der in ihren Büchern häufig als »vernichtend« beschrieben worden war. Hastig schaute Tessa zur Seite.

Als sie schließlich das vornehme West End erreichten, besserte sich die Stimmung auch nicht gerade. Jessamine erteilte Thomas den Auftrag, bei der Kutsche zu warten, und zerrte Tessa dann von einem Modesalon zum nächsten, wo sie Entwurf für Entwurf betrachtete, während jeweils die hübscheste Verkäuferin die verschiedenen Modelle vorführte. (Keine echte Dame würde ein Kleid, das schon einmal von einer Fremden getragen worden war, an ihre Haut kommen lassen.) In jedem Salon gab Jessamine einen anderen, falschen Namen an und erzählte eine andere, erfundene Geschichte; und in jedem dieser Salons schienen die Besitzerinnen entzückt von ihrem Erscheinungsbild und ihrem offensichtlichen Reichtum und überschlugen sich förmlich, sie zu bedienen. Tessa hingegen wurde meist ignoriert und begnügte sich wohl oder übel — und zu Tode gelangweilt — mit der Rolle einer Zuschauerin.

In einem der Modesalons gab Jessamine sich sogar als junge Witwe aus und ließ sich ein schwarzes Trauergewand aus Crepe de Chine und Spitze vorführen. Allerdings kam dadurch ihr blondes Haar sehr vorteilhaft zur Geltung, wie selbst Tessa sich eingestehen musste.

»In diesem Kleid würden Sie einfach hinreißend aussehen und sicherlich bald eine vorteilhafte Wiedervermählung in Erwägung ziehen können.« Die Schneiderin zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Wissen Sie, wie wir dieses Modell nennen? Die Honigfalle.«

Jessamine kicherte, die Damenschneiderin lächelte wissend und Tessa überlegte kurz, ob sie auf die Straße hinauslaufen und ihrem Leben ein Ende setzen sollte, indem sie sich vor eine heranrasende Kutsche warf. Offenbar spürte Jessamine ihre Verärgerung, denn kurz darauf wandte sie sich ihr zu, ein gönnerhaftes Lächeln im Gesicht. »Ach ja: Ich benötige auch noch ein paar Kleider für meine Cousine aus Amerika«, sagte sie. »Die dortige Mode ist schlichtweg grauenerregend. Obendrein ist meine Cousine so flach wie ein Brett, was die Sache auch nicht gerade erleichtert. Aber ich bin mir sicher, dass Sie da bestimmt etwas machen können.«

Die Schneiderin blinzelte, als würde sie Tessa zum ersten Mal wahrnehmen — und möglicherweise war das ja tatsächlich der Fall. »Würden Sie sich gern ein Modell ansehen, Madam?«, fragte sie schließlich. Die darauf folgende betriebsame Geschäftigkeit erschien Tessa wie eine Art Offenbarung: In New York hatte immer Tante Harriet ihre Kleidung gekauft — vorgeschneiderte Kleider, die erst umgeändert werden mussten, damit sie passten, und die in der Regel aus billigen Stoffen in tristen Tönen wie Dunkelgrau oder Marineblau gefertigt waren. Aber niemand hatte Tessa bisher gezeigt, dass ihr ein kräftiger Blauton viel besser stand und ihre graublauen Augen besonders schön zur Geltung brachte oder dass sie Rosarot tragen sollte, damit ihre Wangen mehr Farbe bekamen. Während die Schneiderin ihre Maße nahm, inmitten einer angeregten Plauderei um Futteralstoffe, eng anliegende Oberteile und einen Modeschöpfer namens Charles Worth, stand Tessa da und starrte auf ihr Spiegelbild. Fast erwartete sie, ihre Züge verschwimmen und sich verändern zu sehen, bis die Verwandlung komplett war. Doch sie blieb sie selbst und am Ende der lebhaften Diskussion waren vier neue Kleider für sie in Auftrag gegeben, die ein paar Tage später geliefert werden sollten: eine rosafarbene Robe, ein gelbes Kleid, ein blauweiß gestreiftes Ensemble mit Elfenbeinknöpfen und eines aus goldener und schwarzer Seide. Dazu kamen noch zwei elegante Jacken, von denen eine perlenbestickte Tüllmanschetten besaß.

»Ich vermute, dass Sie in der letzten Aufmachung sogar ganz passabel aussehen werden«, sagte Jessamine, als sie wieder in die Kutsche stiegen. »Es ist doch erstaunlich, was Mode alles bewirken kann.«

Tessa zählte schweigend bis zehn, ehe sie antwortete: »Ich bin Ihnen wirklich zu großem Dank verpflichtet, Jessamine. Sollen wir nun ins Institut zurückkehren?«

Bei dieser Frage huschte ein finsterer Schatten über Jessamines Gesicht. Sie hasst das Institut aus ganzem Herzen, dachte Tessa, vollkommen verwirrt. Aber was war denn so schlimm an dieser Institution? Natürlich konnte einem der Grund für seine Existenz, seine schiere Daseinsberechtigung, schon einiges an Kopfzerbrechen bereiten, aber daran musste Jessamine sich inzwischen doch gewöhnt haben. Schließlich war sie eine Schattenjägerin, genau wie die anderen.

»Es ist solch ein schöner Tag und Sie haben noch gar nichts von London gesehen«, sagte Jessamine.

»Ich denke, ein Spaziergang im Hydepark wäre jetzt angebracht. Und danach könnten wir zum Berkeley Square fahren und Thomas könnte uns bei Gunter’s Tea Shop ein erfrischendes Eis besorgen!«

Tessa schaute aus dem Fenster. Das Wetter war grau und diesig und ab und zu riss ein heftiger Windstoß die Wolkendecke auseinander, unter der ein kleines Fleckchen blauer Himmel zum Vorschein kam. Kein Mensch in New York hätte diesen Tag als schön bezeichnet, aber in London schienen andere Wettermaßstäbe zu gelten. Außerdem war sie Jessamine einen Gefallen schuldig und offensichtlich wollte das Mädchen unter keinen Umständen nach Hause zurückkehren. »Ich liebe Parks«, sagte Tessa schließlich. Fast schlich sich ein Lächeln auf Jessamines Gesicht.

»Du hast Miss Gray nichts von den Zahnrädern erzählt«, stellte Henry fest.

Charlotte schaute von ihren Notizen auf und seufzte. Es hatte sie immer sehr geschmerzt, dass der Rat, trotz ihrer zahlreichen Bitten, dem Institut keine zweite Kutsche bewilligte. Natürlich war ihre jetzige Kutsche von herausragender Güte und Thomas ein ausgezeichneter Kutscher. Aber wenn die Wege der verschiedenen Schattenjäger in unterschiedliche Richtungen führten, so wie heute, bedeutete dies, dass Charlotte gezwungen war, sich ein Gefährt von Benedict Lightwood zu leihen, der nicht unbedingt zu ihren Busenfreunden zählte. Und die einzige Kutsche, die er ihr widerstrebend zur Verfügung stellte, war klein und unbequem. Armer Henry, dachte Charlotte. Er war so groß, dass er mit dem Kopf ständig gegen die niedrige Decke der Kutsche stieß.