»Nein, ich habe es nicht erwähnt«, bestätigte sie nun. »Das arme Mädchen erschien mir auch so bereits überfordert genug. Ich konnte ihr doch unmöglich sagen, dass die mechanischen Teile, die wir im Keller des Dunklen Hauses gefunden haben, ausgerechnet von der Firma gefertigt worden sind, bei der ihr Bruder angestellt war. Sie sorgt sich schon genug um ihn. Diese weitere Information schien mir mehr zu sein, als sie hätte verkraften können.«
»Möglicherweise hat das gar nichts zu bedeuten«, wandte Henry ein. »Mortmain & Company fertigt die meisten Werkzeuge und Maschinenteile, die in England Verwendung finden. Mortmain ist wirklich eine Art Genie. Sein patentiertes System zur Herstellung von Kugellagern ...«
»Jaja.« Charlotte bemühte sich, die Ungeduld in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Vermutlich hätten wir es ihr sagen sollen. Aber ich hielt es für das Beste, zunächst einmal mit Mr Mortmain zu sprechen und weitere Informationen einzuholen. Natürlich hast du recht: Möglicherweise weiß er überhaupt nichts und zwischen ihm und den Funden im Keller besteht nicht der geringste Zusammenhang. Aber das wäre ein ziemlich merkwürdiger Zufall, Henry. Und ich bin Zufällen gegenüber äußerst misstrauisch.«
Damit widmete sie sich wieder den Notizen, die sie über Axel Mortmain angelegt hatte. Er war der einzige (und wahrscheinlich uneheliche) Sohn von Dr. Hollingworth Mortmain, der es im Laufe der Jahre von einer bescheidenen Anstellung als Schiffsarzt bei der Handelsmarine zu einem wohlhabenden Privatier gebracht hatte, welcher mit chinesischen Unternehmen Handel trieb und Gewürze, Zucker, Seide und Tee importierte — und vermutlich auch Opium. In dieser Hinsicht stimmte Charlotte mit Jem überein. Nach dem Tod von Dr. Mortmain hatte sein Sohn Axel mit knapp zwanzig Jahren das riesige Vermögen geerbt und dieses in den Bau einer Flotte von Schiffen investiert, die schneller und wendiger waren als alle anderen damaligen Wasserfahrzeuge. Innerhalb eines einzigen Jahrzehnts hatte der junge Mortmain die Reichtümer seines Vaters erst verdoppelt und dann vervierfacht.
Charlotte las weiter und erfuhr, dass er wenige Jahre zuvor von Shanghai nach London zurückgekehrt war, seine Handelsflotte veräußert und den Erlös zum Erwerb eines großen Unternehmens genutzt hatte, welches mechanische Teile für die Herstellung von Zeitmessern produzierte — von Taschenuhren über Chronometer bis hin zu Standuhren. Mortmain war ein sehr wohlhabender Mann.
Im nächsten Moment hielt die Kutsche vor einer Zeile weißer Reihenhäuser, deren hohe Fenster auf einen kleinen Platz hinausgingen. Henry lehnte sich aus der Kutsche und las die Nummer, die auf einer Messingplakette am Torpfosten stand. »Das hier müsste es sein«, sagte er und griff nach dem Wagenschlag.
»Henry«, hielt Charlotte ihn zurück und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Henry, bitte denk daran, was wir heute Morgen besprochen haben.«
Ihr Mann lächelte wehmütig. »Ich werde mein Bestes tun, dich weder zu blamieren noch die Ermittlungen zu behindern. Ehrlich gesagt frage ich mich manchmal, warum du mich zu derartigen Terminen überhaupt mitnimmst. Du weißt doch, was für ein Tollpatsch ich im Umgang mit Menschen bin.«
»Du bist überhaupt kein Tollpatsch, Henry«, sagte Charlotte sanft. Sie sehnte sich danach, die Hand auszustrecken und sein Gesicht zu berühren, ihm das Haar aus der Stirn zu streichen und ihn zu beruhigen. Doch sie hielt sich zurück. Sie wusste, dass es besser war, einem Mann keine Zuneigung aufzudrängen, die er wahrscheinlich nicht wünschte — das hatte man ihr oft genug geraten.
Das Ehepaar Branwell ließ die Kutsche in der Obhut des Lightwood’schen Kutschers zurück, stieg die Stufen hinauf und betätigte die Türglocke.
Kurz darauf öffnete ihnen ein mürrischer Lakai in dunkelblauer Livree. »Guten Tag«, sagte er schroff.
»Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit Sie gekommen sind?«
Charlotte warf Henry einen vielsagenden Blick zu, doch ihr Mann starrte mit einem verträumten Ausdruck in den Augen an dem Diener vorbei. Der Himmel allein wusste, womit sich seine Gedanken gerade beschäftigten — vermutlich mit Zahnrädern, Getrieben und anderen technischen Spielereien, aber ganz gewiss nicht mit der gegenwärtigen Situation. Resigniert stieß sie einen innerlichen Seufzer aus und erwiderte: »Mein Name ist Mrs Gray und das hier ist mein Mann, Mr Henry Gray. Wir sind auf der Suche nach einem unserer Verwandten, einem jungen Mann namens Nathaniel Gray. Seit nahezu sechs Wochen haben wir nichts mehr von ihm gehört. Nate ist oder war einer von Mr Mortmains Angestellten ...« Für den Bruchteil einer Sekunde schien in den Augen des Lakaien etwas aufzuflackern, ein Ausdruck von Unruhe — aber vielleicht hatte sie sich das auch nur eingebildet.
»Mr Mortmain besitzt ein ziemlich großes Unternehmen. Sie können wohl kaum erwarten, dass er über die persönlichen Belange sämtlicher Mitarbeiter informiert ist. Das wäre schlichtweg unmöglich. Vielleicht sollten Sie sich an die Polizei wenden.«
Charlottes Augen verengten sich zu Schlitzen. Vor dem Aufbruch zu Mortmains Haus hatte sie die Innenseite ihrer Arme mit speziellen Runen zur Erhöhung ihrer Überredungskünste versehen. Doch dieser Lakai zählte zu den wenigen Irdischen, die dafür offenbar vollkommen unempfänglich waren. »Das haben wir bereits, doch die Polizei scheint in diesem Fall keinerlei Fortschritte zu machen. Das Ganze ist einfach schrecklich und wir sorgen uns sehr um Nate. Wenn wir Mr Mortmain vielleicht einen kurzen Moment sprechen könnten ...«
Charlotte entspannte sich, als der Diener langsam nickte. »Ich werde Mr Mortmain über Ihren Besuch informieren«, sagte er widerstrebend und trat einen Schritt zurück, um sie hereinzulassen. »Bitte warten Sie im Vestibül.« Er schien fast verwundert über seine eigene Nachgiebigkeit. Dann schwang er die Tür weit auf und Charlotte folgte ihm, Henry im Kielsog. Obwohl der Lakai es versäumte, Charlotte einen Stuhl anzubieten — ein Mangel an Höflichkeit, den sie auf die von den Runen erzeugte Verwirrung zurückführte —, nahm er Henrys Mantel und Hut und Charlottes Umhang entgegen, ehe er die beiden allein in der Eingangshalle zurückließ.
Neugierig schauten sie sich um. Das Vestibül verfügte über eine hohe Decke, war aber frei von den üblichen Ornamenten: Weder klassische Landschaftsgemälde noch Familienporträts zierten die Wände. Stattdessen hingen lange Seidenbanner von der Decke, mit chinesischen Schriftzeichen für Glück; in einer Ecke stand eine indische Schale aus getriebenem Silber, flankiert von Federzeichnungen berühmter Wahrzeichen. Charlotte erkannte den Kilimandscharo, die ägyptischen Pyramiden, das Tadsch Mahal sowie einen Abschnitt der Chinesischen Mauer. Mortmain war eindeutig ein weit gereister Mann und stolz darauf. Charlotte drehte sich zu Henry, um sich zu vergewissern, ob auch er sich umgesehen hatte. Doch ihr Mann starrte vage in Richtung Treppe, erneut in seine eigene Gedankenwelt versunken. Ehe Charlotte etwas sagen konnte, tauchte der Lakai wieder auf, ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Henry und Charlotte kamen der Aufforderung nach und schlossen sich dem Diener an, der sie zum Ende des Korridors führte, dort eine schwere, glänzend polierte Eichentür öffnete und sie zum Eintreten einlud. Im nächsten Moment fanden sie sich in einem großen Arbeitszimmer wieder, mit breiten Fenstern, die auf den Platz vor dem Haus hinausgingen. Die dunkelgrünen Vorhänge waren zurückgezogen, um Licht hereinzulassen, und durch die Scheiben konnte Charlotte ihre geliehene Kutsche sehen, die am Straßenrand wartete. Das Pferd hatte den Kopf tief in seinen Futterbeutel gesteckt und der Kutscher saß auf dem hohen Kutschbock und las Zeitung. Auf der anderen Seite der Straße bewegten sich die Zweige der Bäume, doch das Rauschen der smaragdgrünen Blätter drang nicht durch die Fenster, die sämtlichen Straßenlärm aussperrten. Im Raum selbst war nichts zu hören außer dem leisen Ticken einer Wanduhr, in deren goldenes Zifferblatt jemand die Worte Mortmain & Company graviert hatte.