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Schwere dunkle Holzmöbel füllten den Raum und an den Wänden hingen mehrere Tierköpfe — ein Tiger, eine Antilope und ein Leopard — sowie weitere unbekannte Landschaften. In der Mitte des Raumes stand ein großer Mahagonischreibtisch, auf dem sorgfältig geordnete Papierstapel lagen, jeweils mit einem massiven Getriebe aus Kupfer beschwert. Ein in Messing eingefasster Globus mit James Wylds berühmter Weltkarte, auf der die Länder unter britischer Herrschaft in Rosenrot abgebildet waren, stand an einer Ecke des Schreibtischs. Der Anblick eines solchen Erdballs irritierte Charlotte jedes Mal — die Welt der Irdischen besaß nicht dieselben Umrisse wie die der Schattenjäger.

Hinter dem Schreibtisch saß ein kleiner, drahtiger Mann mittleren Alters mit hellgrauen Augen und gebührend ergrauten Koteletten, der sich nun mit einem freundlichen Ausdruck im Gesicht erhob. Seine Haut wirkte wettergegerbt, als hätte er sich viel im Freien aufgehalten. Trotz seiner teuren Kleidung konnte Charlotte ihn sich mühelos an Deck eines Schiffs vorstellen, wo er begierig in die Ferne spähte. »Guten Tag«, begrüßte er seine Gäste. »Walker hat mir zu verstehen gegeben, dass Sie auf der Suche nach Mr Nathaniel Gray sind. Ist das richtig?«

»Ja«, bestätigte Henry zu Charlottes Überraschung. Henry übernahm nur selten, wenn überhaupt, die Führung in einem Gespräch mit Fremden, und sie fragte sich, ob das möglicherweise mit der kompliziert wirkenden Entwurfszeichnung auf dem Schreibtisch zusammenhing. Henry warf derart sehnsüchtige Blicke darauf, dass man meinen konnte, es handelte sich um sein Lieblingsgericht. »Wir sind hier in England seine nächsten Anverwandten«, fügte er hinzu.

»Und wir wissen es wirklich zu schätzen, dass Sie sich die Zeit für uns nehmen, Mr Mortmain«, ergänzte Charlotte hastig. »Natürlich ist uns bewusst, dass Nate nur einer Ihrer vielen Angestellten war, einer von Dutzenden ...«

»Von Hunderten«, erwiderte Mr Mortmain. Er besaß eine angenehme Baritonstimme, die nun sehr amüsiert klang. »Es ist wohl richtig, dass ich nicht das Schicksal eines jeden meiner Angestellten verfolgen kann, doch an Mr Gray erinnere ich mich zufälligerweise recht gut. Eines muss ich allerdings hinzufügen: Ich kann mich nicht entsinnen, dass er jemals erwähnt hätte, Schattenjäger zu seiner Verwandtschaft zu zählen.«

6

Fremdes Terrain

Oh, schau nicht an den Goblin-Mann und kauf nicht seine Frucht, wer weiß, wo ihre Wurzeln einst die Nahrung sich gesucht?
Christina Rossetti, »Goblin-Markt«

»Ehrlich gesagt, entspricht diese Lokalität so gar nicht meiner Vorstellung von einem Freudenhaus«, wandte Jem sich an Will.

Die beiden Jungen standen in einer Nebenstraße der Whitechapel High Street, vor dem Eingang des Gebäudes, das Tessa als das Dunkle Haus bezeichnet hatte. Es wirkte schäbiger und trüber, als Will es in Erinnerung hatte — so als hätte jemand es mit einer zusätzlichen Lage Staub und Schmutz versehen.

»Was genau hattest du dir denn vorgestellt, James? Liebesdienerinnen, die dir vom Balkon aus zuwinken? Nackte Statuen in der Toreinfahrt?«

»Ich vermute, dass ich ein weniger trist wirkendes Etablissement erwartet habe«, sagte Jem sanft. Auch Will hatte bei seinem ersten Besuch des Dunklen Hauses etwas Ähnliches gedacht. Außen wie innen vermittelte das gesamte Gebäude den überwältigenden Eindruck, dass es nie als richtiges Zuhause gedient hatte. Die verriegelten Fenster wirkten schmutzig und die zugezogenen Vorhänge schmuddelig und fadenscheinig.

Will krempelte die Ärmel hoch. »Wahrscheinlich werden wir die Tür eintreten müssen ...«

»Oder auch nicht«, erwiderte Jem, griff nach dem Türknauf und drehte ihn.

Die Tür schwang auf und dahinter kam gähnende Dunkelheit zum Vorschein.

»Also, das nenne ich nun schlichtweg Faulheit«, kommentierte Will, zog einen Jagddolch aus dem Gürtel und trat vorsichtig ein, dicht gefolgt von Jem, der seinen Spazierstock mit dem Jadeknauf fest in der Hand hielt. In der Regel wechselten sie sich beim Betreten gefährlichen Geländes ab, obwohl Jem eigentlich lieber die Nachhut bildete — Will vergaß stets, sich umzuschauen.

Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss und sperrte sie in der zwielichtigen Dunkelheit ein. Der Eingangsbereich sah fast noch genauso aus wie bei seinem ersten Besuch, überlegte Will — dieselbe hölzerne Treppe hinauf in die oberen Stockwerke, derselbe brüchige Marmorboden, dieselbe stauberfüllte Luft.

Jem hob die Hand, worauf sein Elbenlicht strahlend aufleuchtete und eine Gruppe schwarzer Käfer in die Flucht schlug. Hastig huschten sie über den Boden.

»Ein hübsches Plätzchen, nicht wahr?«, bemerkte Will spöttisch und verzog das Gesicht. »Hoffentlich haben die Bewohner noch etwas anderes hinterlassen als nur Dreck. Eine Nachsendeadresse, ein paar abgetrennte Gliedmaßen, eine Prostituierte oder zwei ...«

»In der Tat. Wenn wir Glück haben, können wir uns vielleicht doch noch eine Syphiliserkrankung einfangen.«

»Oder Dämonenpocken«, schlug Will heiter vor und rüttelte an der Tür unter der Treppe, die daraufhin aufschwang. Genau wie die Haustür war auch sie nicht verriegelt. »Uns bleiben immer noch Dämonenpocken.«

»Es gibt keine Dämonenpocken.«

»Oh du Kleingläubiger«, spottete Will und verschwand in der Dunkelheit unter der Treppe.

Gemeinsam durchkämmten die beiden Schattenjäger sämtliche Bereiche im Keller und Erdgeschoss, fanden aber nichts außer Unrat und Staub. Der Raum, in dem Tessa und Will gegen die Dunklen Schwestern gekämpft hatten, war vollkommen ausgeräumt worden und erst nach langem Suchen entdeckte Will einen Fleck an einer Wand, der nach verschmiertem Blut aussah. Aber nichts deutete darauf, woher dieses Blut stammte, und Jem wandte ein, es könne sich auch ebenso gut um einen Farbklecks handeln.

Schließlich stiegen die beiden die Treppe hinauf und stießen auf einen langen Gang mit zahlreichen Türen, der Will bekannt vorkam: Er war an jenem Abend durch diesen Flur gestürmt, mit Tessa im Schlepptau. Sofort betrat er das erste Zimmer auf der rechten Seite, in dem er Tessa gefunden hatte. Nichts erinnerte mehr an die ehemalige Bewohnerin — das verängstigte Mädchen mit den weit aufgerissenen Augen, das ihn mit einem Krug an der Hand verletzt hatte. Das Zimmer war leer, die Möbel zur Stadt der Stille abtransportiert, wo sie sorgfältig untersucht werden sollten. Vier dunkle Dellen im Boden deuteten die Stelle an, an der einst das Bett gestanden hatte. In den übrigen Räumen sah es auch nicht anders aus. Will versuchte gerade, das Fenster in einem der Zimmer zu öffnen, als er Jem hörte, der ihm aus dem letzten Raum auf der linken Seite des Ganges etwas zurief. Hastig lief Will zu seinem Freund und fand ihn in einem großen, quadratischen Zimmer, das Elbenlicht in der hoch erhobenen Hand. Und er war nicht allein: Ein einziges Möbelstück stand in der Raummitte — ein Polstersessel. Und in dem Sessel saß eine Frau. Sie war jung, vermutlich kaum älter als Jessamine, und trug ein schäbiges Kattunkleid. Ihre mattbraunen Haare waren im Nacken zu einem Knoten gesteckt, ihre Hände rau und gerötet und ihre Augen weit aufgerissen.

»Ach herrje«, murmelte Will, zu überrascht für einen wortgewandteren Kommentar. »Ist sie ...«

»Ja, sie ist tot«, bestätigte Jem.

»Bist du ganz sicher?« Will konnte den Blick einfach nicht vom Gesicht der jungen Frau abwenden. Sie war bleich, aber nicht leichenblass und die im Schoß gefalteten Hände wirkten fast lebendig und nicht wie von Totenstarre erfasst. Vorsichtig trat Will an das Mädchen heran und legte ihr eine Hand auf den Arm, der sich unter seinen Fingern kalt und steif anfühlte. »Nun ja, sie reagiert nicht auf meine Annäherungsversuche, daher muss sie tot sein«, bemerkte er munterer, als ihm eigentlich zumute war.