Tessa starrte sie verblüfft an. Waliser? Ist das etwas Schlechtes?, wollte sie gerade hinzufügen, doch Jessamine, die glaubte, Tessa würde Wills Herkunft infrage stellen, fuhr bereits mit großem Genuss fort:
»Aber ja. Bei seiner Fülle pechschwarzer Haare besteht daran nicht der geringste Zweifel. Seine Mutter war eine Waliserin. Sein Vater hat sich in sie verliebt und das war’s dann. Er hat die Reihen der Nephilim verlassen. Vielleicht hat sie ihn ja verhext.« Jessamine lachte. »Sie wissen ja, dass es in Wales alle möglichen Arten von Magie und Seltsamkeiten gibt.«
Doch Tessa hatte noch nie etwas Derartiges gehört.
»Wissen Sie, was mit Wills Eltern passiert ist? Sind sie tot?«, fragte sie stattdessen.
»Ich gehe davon aus, dass sie tot sein müssen, denn sonst hätten sie doch gewiss nach ihm gesucht, oder nicht?« Jessamine runzelte die Stirn. »Aber genug davon. Ich habe keine Lust mehr, mich über das Institut zu unterhalten.« Sie wirbelte zu Tessa herum. »Sicherlich fragen Sie sich, warum ich so nett zu Ihnen bin.«
»Äh ...« Tessa hatte sich in der Tat gewundert. In Romanen wurden Mädchen wie sie — Mädchen, deren Familien einst vermögend gewesen, dann aber in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren — häufig von wohlwollenden, begüterten Gönnern aufgenommen und mit neuer Kleidung und einer guten Erziehung versehen. (Nicht dass an ihrer Erziehung irgendetwas auszusetzen wäre, überlegte Tessa. Tante Harriet war so gelehrt gewesen wie jede Gouvernante.)
Aber Jessamine besaß nicht die geringste Ähnlichkeit mit den frommen älteren Damen dieser Romane, deren Großzügigkeit vollkommen selbstlos war. »Jessamine, haben Sie schon einmal Der Laternenanzünder gelesen?«
»Ganz gewiss nicht. Mädchen und Frauen sollten keine Romane lesen«, entgegnete Jessamine in einem Ton, als zitiere sie jemand anderen. »Nun, wie dem auch sei: Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten, Miss Gray.«
»Tessa«, berichtigte Tessa automatisch.
»Natürlich, denn wir sind ja bereits die besten Freundinnen und werden bald noch enger befreundet sein«, flötete Jessamine.
Verblüfft musterte Tessa ihr Gegenüber. »Ich verstehe nicht ganz ...«
»Zweifellos hat der abscheuliche Will dir erzählt, dass meine Eltern, mein geliebter Papa und meine liebe Mama, tot sind. Aber sie haben mir eine nicht unbeträchtliche Summe Geldes vermacht. Geld, das treuhänderisch verwaltet wird, und zwar bis zu meinem achtzehnten Geburtstag. Das Ganze ist also nur noch eine Frage weniger Monate. Aber natürlich erkennst du das Problem.«
Tessa, die das Problem nicht erkannte, fragte vage:
»Tu ich das?«
»Ich bin keine Schattenjägerin, Tessa. Ich verabscheue alles an den Nephilim und habe nie eine von ihnen sein wollen. Daher ist es mein innigster Wunsch, das Institut zu verlassen und nie wieder mit einem seiner Bewohner auch nur ein Wort zu wechseln.«
»Aber ich dachte, deine Eltern wären Schattenjäger gewesen ...«
»Man muss kein Schattenjäger sein, wenn man es nicht will«, schnappte Jessamine. »Und meine Eltern hegten diesen Wunsch nicht. Sie hatten die Gemeinschaft der Nephilim bereits verlassen, als sie noch jung waren. Mama hat nie einen Zweifel daran aufkommen lassen und dafür gesorgt, dass keine Schattenjäger in meine Nähe kamen. Sie meinte, sie würde nicht wollen, dass ihr kleines Mädchen ein solches Leben führen müsse. Stattdessen wünschte sie sich andere Dinge für mich: dass ich in die Gesellschaft eingeführt werden würde, der Königin vorgestellt, einen guten Ehemann finden und viele zauberhafte kleine Babys bekommen würde. Sie hatte sich ein ganz normales Leben für mich gewünscht!«, fügte Jessamine mit heftiger Begierde in der Stimme hinzu. »In dieser Stadt gibt es eine Fülle anderer Mädchen, Tessa, andere Mädchen meines Alters, die nicht annähernd so hübsch sind wie ich, die aber in diesem Moment tanzen und flirten und lachen und sich einen Ehemann angeln. Und sie erhalten Französischunterricht, während ich diese schrecklichen Dämonensprachen lernen muss. Es ist einfach nicht fair.«
»Aber du kannst doch immer noch heiraten«, warf Tessa verwirrt ein. »Jeder Mann wäre nur zu ...«
»Ich könnte einen Schattenjäger heiraten«, unterbrach Jessamine sie verächtlich. »Und ein Leben führen, wie Charlotte es führt — gezwungen, sich als Mann zu kleiden und wie ein Mann zu kämpfen. Einfach abscheulich. Frauen sind nicht dazu geschaffen, sich so zu verhalten. Wir sind dazu geschaffen, liebenswürdig über unser entzückendes Heim zu wachen. Es auf eine Weise zu dekorieren, die unserem Ehemann gefällt. Ihn mit unserer sanften und engelsgleichen Anwesenheit zu erfreuen und zu erquicken.«
Jessamine klang weder sanft noch engelsgleich, doch Tessa enthielt sich jeden Kommentars. »Ich verstehe nicht ganz, was das mit mir ...«, setzte sie an. Jessamine packte Tessa fest am Arm. »Begreifst du es denn immer noch nicht? Ich kann das Institut verlassen, aber ich kann nicht allein leben. Das wäre nicht schicklich. Wenn ich eine Witwe wäre, würde man es vielleicht noch durchgehen lassen, aber ich bin nur eine junge Frau. So etwas gehört sich nicht. Wenn ich jedoch eine Gefährtin hätte — eine Schwester ...«
»Du willst, dass ich mich als deine Schwester ausgebe?«, quietschte Tessa.
»Warum nicht?«, erwiderte Jessamine, als wäre dies der vernünftigste Vorschlag der Welt. »Oder du könntest meine Cousine aus Amerika sein. Ja, das würde funktionieren. Schließlich ist es ja nicht so, als hättest du viele Alternativen und könntest dir aussuchen, zu wem du ziehst«, fügte sie nun pragmatischer hinzu. »Ich bin mir ziemlich sicher, wir würden uns innerhalb kürzester Zeit einen Ehemann angeln.«
Tessa, die allmählich Kopfschmerzen bekam, wünschte, Jessamine würde endlich aufhören, vom »Angeln« eines Ehemanns zu sprechen — so als würde man einen Fisch fangen.
»Ich könnte dich allen angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft vorstellen«, fuhr Jessamine fort. »Wir würden Bälle geben und Abendgesellschaften und ...«
Sie verstummte und sah sich verwirrt um. »Wo ... wo sind wir?«
Tessa musterte ihre Umgebung. Der Pfad war noch schmaler und dämmriger geworden und führte zwischen hohen, dicht geschlossenen Bäumen und Hecken hindurch. Von ihrem Standort aus waren weder der Himmel zu sehen noch irgendwelche Stimmen zu hören.
Jessamine blieb abrupt stehen und auf ihrem Gesicht zeichnete sich plötzlich Furcht ab. »Wir sind vom Weg abgekommen«, wisperte sie.
»Nun ja, wir können doch einfach zurückgehen, oder nicht?« Tessa schaute sich um und suchte nach einer Lücke in den Bäumen, einem zarten Sonnenstrahl.
»Ich glaube, wir sind von dort gekommen ...«
Plötzlich umklammerte Jessamine Tessas Arm. Auf dem Pfad vor ihnen war wie aus dem Nichts irgendetwas, nein, irgendjemand aufgetaucht: