»Das mag sein«, erwiderte Henry, der zutiefst unglücklich wirkte, »aber Sie müssen wissen, das Ganze ist sehr gefährlich ... das Töten von Dämonen. So etwas lässt sich nicht mit dem Niederstrecken von Tigern vergleichen. Dämonen können ebenso gut Jagd auf Sie machen, wie Sie ihnen aufzulauern versuchen.«
Mortmain lachte in sich hinein. »Ich habe keineswegs die Absicht, loszustürmen und mit bloßen Händen gegen Dämonen zu kämpfen. Natürlich ist diese Sorte von Informationen in den Händen von Leichtsinnigen und Hitzköpfen gefährlich, aber ich darf mich wohl eines wachen und verantwortungsvollen Verstandes rühmen. Ich strebe lediglich eine Erweiterung meines Wissens an, mehr aber auch nicht.« Er warf einen Blick in die Runde. »Ich muss schon sagen: Noch nie zuvor hatte ich die Ehre, mich mit den Nephilim zu unterhalten. Natürlich werden Sie in der einschlägigen Literatur häufig erwähnt, aber Sie werden mir sicherlich zustimmen, wenn ich sage, dass zwischen der Lektüre und dem tatsächlichen Erleben eines Phänomens ein gewaltiger Unterschied besteht. Es gibt so vieles, das Sie mich lehren könnten ...«
»Das reicht jetzt«, sagte Charlotte in eisigem Ton. Verwirrt schaute Mortmain sie an. »Wie bitte?«
»Da Sie ja offensichtlich so gut über die Nephilim informiert sind, Mr Mortmain, darf ich Ihnen wohl die Frage stellen, ob Sie über unseren Auftrag Bescheid wissen?«
Ein selbstgefälliger Ausdruck breitete sich auf Mortmains Gesicht aus. »Ihr Auftrag besteht darin, Dämonen zu töten. Und Menschen zu schützen — Irdische, wie Sie uns nennen, wenn ich mich recht entsinne.«
»Ja«, bestätigte Charlotte. »Einen Großteil unserer Zeit verbringen wir damit, Menschen vor ihren eigenen törichten Taten zu schützen. Und wie ich sehe, bilden auch Sie diesbezüglich keine Ausnahme.«
Bei diesen Worten zog Mortmain eine erstaunte Miene und sein Blick wanderte zu Henry. Charlotte kannte diesen Blick — ein Blick, der nur zwischen Männern getauscht wurde, ein Blick, der besagte: Sind Sie nicht in der Lage, Ihre Frau im Zaum zu halten, Sir? Und ein Blick, von dem Charlotte wusste, dass er Henry gegenüber ziemlich vergeudet war. Denn dieser schenkte dem Gespräch nur wenig Beachtung und war eindeutig stärker daran interessiert, die auf dem Kopf stehenden Entwurfspläne auf Mortmains Schreibtisch zu entziffern.
»Sie glauben, das okkulte Wissen, das Sie sich angeeignet haben, mache Sie besonders gescheit«, sagte Charlotte. »Aber ich habe schon mehr als genug tote Irdische gesehen, Mr Mortmain. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft wir schon zu den traurigen Überresten eines Menschen gerufen wurden, der sich in der Kunst der Magie für sehr bewandert gehalten hatte. Als junges Mädchen war ich einmal bei einem Einsatz im Haus eines Advokaten zugegen: Er hatte irgendeinem lächerlichen Zirkel von Männern angehört, die sich selbst als Magier bezeichneten und ihre Zeit damit verbrachten, sich in alberne Roben zu kleiden, irgendwelche Sprechgesänge zu psalmodieren und Pentagramme auf den Boden zu malen. Und eines Tages war er zu dem Schluss gekommen, seine Fähigkeiten reichten aus, um einen Dämon heraufzubeschwören.«
»Und, ist es ihm gelungen?«
»In der Tat«, bestätigte Charlotte. »Er beschwor den Dämon Marax herauf. Und dieser hatte nichts Besseres zu tun, als den Advokaten niederzumetzeln ... ihn und seine gesamte Familie«, erzählte sie nüchtern. »Die meisten fanden wir im Kutschhaus, ohne Kopf und an den Füßen aufgehängt. Nur der jüngste Sohn steckte auf einem Spieß und röstete in der Küche über dem offenen Herd. Es ist uns nicht gelungen, Marax aufzuspüren.«
Mortmain war bleich geworden, bewahrte aber Haltung. »Natürlich gibt es immer Menschen, die ihre Fähigkeiten überschätzen«, räumte er ein. »Aber ich ...«
»Aber Sie wären niemals so töricht«, unterbrach Charlotte ihn. »Nur mit dem Unterschied, dass Sie sich so verhalten — und zwar genau in diesem Augenblick. Sie sehen Henry und mich und Sie fürchten sich kein bisschen vor uns. Im Gegenteiclass="underline" Sie sind amüsiert! Ein Märchen, das Wirklichkeit geworden ist!« Im nächsten Moment schlug Charlotte mit der flachen Hand so hart auf Mortmains Tischplatte, dass dieser erschrocken zusammenzuckte. »Aber Sie vergessen dabei eines: Hinter uns steht die geballte Macht des Rates«, fuhr sie eisig fort. »Unser Auftrag ist der Schutz von Menschen. Menschen wie Nathaniel Gray. Mr Gray ist spurlos verschwunden und hinter seinem Verschwinden steckt irgendeine okkulte Geschichte. Und nun treffen wir hier auf seinen ehemaligen Arbeitgeber, der bis über beide Ohren in okkulte Machenschaften verstrickt ist. Da drängt sich doch der Eindruck auf, dass diese beiden Tatsachen in gewisser Weise zusammenhängen, finden Sie nicht auch?«
»Ich ... äh ... Mr ... Mr Gray ist verschwunden?«, stammelte Mortmain.
»In der Tat. Seine Schwester forscht nach seinem Verbleib und hat sich Hilfe suchend an uns gewandt. Von zwei Hexen erfuhr sie, dass er in großer Gefahr schwebt. Während Sie sich hier prächtig amüsieren, könnte Nathaniel Gray in diesem Moment im Sterben liegen. Und glauben Sie mir: Der Rat ist denjenigen, die sich ihm bei der Erfüllung seines Auftrags in den Weg stellen, nicht gerade wohlgesinnt.«
Mortmain fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, das plötzlich sehr grau wirkte. »Natürlich werde ich all Ihre Fragen beantworten«, beeilte er sich zu versichern.
»Ausgezeichnet.« Charlottes Herz schlug wie wild, aber ihrer Stimme war keinerlei Anspannung anzumerken.
»Ich habe seinen Vater gekannt. Nathaniel Grays Vater. Er war bei mir angestellt ... vor etwa zwanzig Jahren, als ich noch ausschließlich im Reedereigeschäft tätig war. Damals hatte ich Niederlassungen in Hongkong, Shanghai, Tianjin ...« Er verstummte, als Charlotte ungeduldig mit den Fingern auf der Schreibtischplatte trommelte. »Richard Gray hat hier in London für mich gearbeitet. Er war mein Bürovorsteher, ein freundlicher und kluger Mann. Ich habe es sehr bedauert, als er kündigte, um mit seiner Familie nach Amerika auszuwandern. Und als Nathaniel mir schrieb und erklärte, wer er sei, habe ich ihm sofort eine Stelle angeboten.«
»Mr Mortmain.« Charlottes Stimme klang stahlhart.
»Das ist hier nicht von Belang ...«
»Oh doch, das ist es sehr wohl«, beharrte der kleine Mann. »Sie müssen wissen, dass meine Kenntnisse des Okkulten mir auch in geschäftlichen Angelegenheiten immer nützlich gewesen sind. Vor ein paar Jahren ging beispielsweise ein renommiertes Bankhaus in der Lombard Street bankrott und riss Dutzende großer Unternehmen mit sich in den Ruin. Doch meine Bekanntschaft mit einem Hexenmeister half mir dabei, diese Katastrophe für mich abzuwenden: Ich war in der Lage, meine Geldmittel rechtzeitig abzuziehen, bevor die Bank zusammenbrach, und somit mein Geschäft zu retten. Allerdings weckte dies auch Richards Misstrauen. Er muss wohl Nachforschungen angestellt haben, denn irgendwann konfrontierte er mich mit seinem Wissen über den Pandemonium Club.«
»Dann sind Sie ein Mitglied des Clubs«, murmelte Charlotte. »Natürlich.«
»Ich bot Richard an, dem Club ebenfalls beizutreten, nahm ihn sogar ein- oder zweimal zu einer Zusammenkunft mit, doch er war nicht daran interessiert. Kurz darauf brachte er seine Familie nach Amerika.«
Mortmain spreizte die Hände. »Der Pandemonium Club ist nichts für jedermann. Als weit gereister Mann habe ich Geschichten von ähnlichen Organisationen in anderen Großstädten gehört — Gruppen von Männern, die von der Verborgenen Welt Kenntnis haben und ihr Wissen und den damit verbundenen Nutzen mit anderen teilen wollen. Allerdings zahlt man für die Mitgliedschaft einen hohen Preis: absolute Verschwiegenheit.«
»Der wahre Preis ist wesentlich höher«, bemerkte Charlotte kühl.
»Der Club ist keine verbrecherische Organisation«, warf Mortmain ein und klang dabei fast gekränkt. »Im Laufe der Jahre wurden großartige Fortschritte erzielt, viele fantastische Errungenschaften erlangt. Ich habe beispielsweise erlebt, wie ein Hexenmeister einen Silberring erschuf, der seinen Träger sofort an einen anderen Ort brachte, sobald er ihn drehte. Oder eine Art Portal, das den Nutzer an jeden gewünschten Ort der Welt transportierte. Ich habe gesehen, wie sich Männer vom Totenbett erhoben ...«