»Bitte stellen Sie mich nicht auf die Probe, Mr Mortmain.« Das Gerät in Charlottes Hand war schweißfeucht, aber ihre Stimme klang vollkommen beherrscht. »Es würde mir gar nicht gefallen, mit ansehen zu müssen, wie Sie eines qualvollen Todes sterben.«
»Gütiger Gott, so reden Sie doch, Mann!«, platzte Henry hervor. »So weit muss es doch gar nicht kommen. Sie machen es sich selbst nur unnötig schwer.«
Mortmain stützte das Gesicht in die Hände. Er wollte schon immer einmal echte Schattenjäger kennenlernen, dachte Charlotte beim Anblick der zusammengekrümmten Gestalt. Und nun ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen.
»De Quincey«, murmelte Mortmain. »Seinen Vornamen kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass er de Quincey heißt.«
Beim Erzengel. Charlotte ließ langsam die Luft aus ihren Lungen entweichen, während sie den Arm herunternahm. »De Quincey? Das kann nicht sein ...«
»Dann kennen Sie ihn?« Mortmains Stimme klang matt. »Nun ja, davon war auszugehen.«
»De Quincey ist der Anführer eines mächtigen Londoner Vampirclans«, sagte Charlotte beinahe widerstrebend, »ein sehr einflussreicher Schattenweltler und ein Verbündeter des Rats. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ...«
»Er ist das Oberhaupt des Pandemonium Clubs«, warf Mortmain ein. Er wirkte erschöpft und grau im Gesicht. »Alle anderen haben sich ihm gegenüber zu verantworten.«
»Das Oberhaupt des Clubs. Trägt er auch einen Titel?«
Bei dieser Frage schaute Mortmain leicht überrascht. »Der ›Magister‹«, erklärte er schließlich. Rasch ließ Charlotte das Metallgerät in ihren Ärmel gleiten, wobei ihre Hand kaum merklich zitterte.
»Vielen Dank, Mr Mortmain. Sie waren uns sehr behilflich.«
Mortmain warf ihr einen kurzen Blick zu, eine Mischung aus Erschöpfung und Groll. »De Quincey wird herausfinden, dass ich Ihnen seinen Namen verraten habe. Und er wird mich dafür töten lassen.«
»Der Rat wird dafür sorgen, dass dies nicht geschieht. Außerdem werden wir Ihren Namen aus der Sache heraushalten. Er wird nie erfahren, dass Sie mit uns geredet haben.«
»Das würden Sie tun?«, fragte Mortmain leise. »Für einen ... wie sagten Sie noch mal? ... für einen törichten Irdischen?«
»Ich hege noch Hoffnung für Sie, Mr Mortmain. Sie scheinen sich Ihrer eigenen Torheit bewusst geworden zu sein. Der Rat wird Sie im Auge behalten — nicht nur zu Ihrer eigenen Sicherheit, sondern auch, um sich zu vergewissern, dass Sie sich vom Pandemonium Club und ähnlichen Organisationen in Zukunft fernhalten. In Ihrem eigenen Interesse hoffe ich, dass Sie unser heutiges Treffen als eine Warnung betrachten.«
Mortmain nickte. Charlotte marschierte zur Tür, Henry im Kielsog. Die beiden standen bereits auf der Schwelle, als Mortmain sich räusperte. »Es waren doch nur Zahnräder«, sagte er zerknirscht. »Nur Zahnräder und Getriebe. Vollkommen harmlos.«
Zu Charlottes Überraschung reagierte Henry als Erster. »Unbelebte Gegenstände sind in der Tat harmlos, Mr Mortmain«, erwiderte er, ohne sich umzudrehen. »Aber das gilt leider nicht immer für diejenigen, die sie benutzen.«
Mortmain schwieg betreten, während die beiden Schattenjäger den Raum verließen. Wenige Momente später standen Charlotte und Henry wieder auf dem Platz vor dem Haus und ließen sich die frische Brise um die Nase wehen. Londons Luft mochte zwar von Staub und Kohlenqualm erfüllt sein, dachte Charlotte, aber wenigstens war sie frei von jener Mischung aus Angst und Verzweiflung, die wie ein dichter Dunst in Mortmains Arbeitszimmer gehangen hatte.
Vorsichtig zog Charlotte das rechteckige Metallobjekt aus ihrem Ärmel und reichte es ihrem Mann, der es mit ernster Miene entgegennahm. »Ich sollte dich wohl fragen, worum es sich bei diesem Gerät tatsächlich handelt, Henry.«
»Das ist etwas, an dem ich schon eine ganze Weile tüftle.« Henry betrachtete den Gegenstand liebevoll.
»Ein Apparat zum Aufspüren von Dämonenenergie. Ich werde ihn ›Sensor‹ nennen. Noch arbeitet er nicht hundertprozentig, aber wenn es mir erst einmal gelingt ...«
»Ich bin mir sicher, dass dies eine hervorragende Erfindung sein wird«, erklärte Charlotte zuversichtlich.
Henry bedachte sie mit einem mindestens so liebevollen Blick wie das Gerät, was nicht häufig vorkam.
»Welch ein genialer Geistesblitz, Charlotte. Vorzugeben, du könntest die Schattenjägergemeinschaft im Nu herbeizitieren, nur um diesem Mann Angst einzujagen! Aber woher wusstest du, dass ich ein Gerät bei mir tragen würde, das du für deine Zwecke verwenden konntest?«
»Nun ja, du trägst doch immer irgendeine Tüftelei mit dir herum, mein Lieber«, erklärte Charlotte. Henry zog eine verlegene Miene. »Du bist genauso Furcht einflößend wie wundervoll, meine Liebe.«
»Danke, Henry.«
Die Fahrt zurück zum Institut verlief in tiefem Schweigen. Jessamine starrte blind aus dem Kutschfenster und weigerte sich, auch nur ein Wort über das Erlebnis im Hydepark zu verlieren. Ihr Sonnenschirm lag quer über ihrem Schoß, doch es schien sie nicht zu stören, dass das Blut an seinen Rändern dunkle Flecken auf ihrer Taftjacke hinterließ. Nachdem die Kutsche in den Innenhof des Instituts gerollt war, ließ sie sich von Thomas beim Aussteigen helfen und griff dann nach Tessas Hand.
Überrascht schaute Tessa auf. Jessamines Finger waren eiskalt.
»Nun komm schon«, fauchte Jessamine ungeduldig und zerrte ihre Begleiterin zur Institutstür, während Thomas ihnen erstaunt hinterherstarrte.
Tessa ließ sich die Stufen hinaufzerren, durch die Eingangstür und in einen langen Korridor, der dem vor ihrem eigenen Zimmer fast zum Verwechseln ähnelte. Schließlich blieb Jessamine vor einer Tür stehen, öffnete sie, schob Tessa ins Zimmer und schloss sie dann hinter ihnen. »Ich will dir etwas zeigen«, sagte sie.
Tessa schaute sich um. Sie befand sich in einem weiteren dieser großen Schlafzimmer, von denen das Institut offenbar unbegrenzt viele zu besitzen schien. Allerdings hatte Jessamine diesen Raum eher nach ihrem Geschmack einrichten lassen: Die Wände oberhalb der halbhohen Holzvertäfelung waren mit einer rosa Seidentapete versehen, auf dem Bett lag eine geblümte Tagesdecke und in einer Ecke stand eine weiße Frisierkommode, über dessen Ablagefläche exquisite Toilettenutensilien verstreut waren: ein Ringständer, ein Parfümzerstäuber sowie ein silberbeschlagener Frisierspiegel samt Haarbürste.
»Du hast ein hübsches Zimmer«, sagte Tessa, in der Hoffnung, damit Jessamines hysterischen Anfall etwas lindern zu können.
»Es ist viel zu klein«, entgegnete Jessamine. »Aber lassen wir das. Komm lieber hier herüber.« Achtlos warf sie den blutverschmierten Schirm auf das Bett und marschierte quer durch den Raum zum Fenster. Verwundert folgte Tessa ihr. In der Ecke neben dem Fenster stand ein hoher Tisch, auf dem ein Puppenhaus aufgebaut war.
Allerdings nicht die Sorte von schlichtem Pappkartonhaus, das Tessa als kleines Mädchen besessen hatte, sondern ein wunderschönes Miniaturmodell eines Londoner Stadthauses, dessen Front nach außen aufschwang, als Jessamine mit dem Finger dagegendrückte.
Tessa hielt den Atem an. Hinter der Giebelwand kamen wundervolle, winzige Räume zum Vorschein, die mit Miniaturmöbeln perfekt eingerichtet waren — jedes kleinste Detail war maßstabsgetreu gefertigt, von den winzigen Holzstühlen mit Stickkissen bis hin zum gusseisernen Herd in der Puppenküche. Außerdem entdeckte Tessa mehrere kleine Püppchen mit feinen Porzellanköpfen und sogar richtige Ölgemälde an den Wänden des Wohnzimmers.
»Dies war mein Haus«, sagte Jessamine tonlos, kniete sich vor den Tisch, sodass sie mit den Räumen des Puppenhauses auf Augenhöhe war, und winkte Tessa zu sich heran.
Unbehaglich ließ Tessa sich neben ihr nieder, wobei sie sich bemühte, nicht auf Jessamines Rocksaum zu knien. »Du meinst wohl, dies war dein Puppenhaus ... das, mit dem du als kleines Mädchen gespielt hast?«
»Nein.« Jessamine klang ungehalten. »Dies war mein Haus. Mein Vater hat es für mich anfertigen lassen, als ich sechs Jahre alt war. Es ist ein exaktes Modell des Hauses, in dem wir damals gewohnt haben ... in der Curzon Street. Hier siehst du die Tapete, die in unserem Speisezimmer hing ...« Sie zeigte auf eine der Wände. »Und das hier sind genaue Nachbildungen der Stühle im Arbeitszimmer meines Vaters. Siehst du?«