Выбрать главу

Jessamine schaute Tessa derart eindringlich an, dass ihr klar wurde, die junge Schattenjägerin erwartete eine besondere Reaktion von ihr. Doch Tessa sah in dem Puppenhaus nichts anderes als nur ein extrem teures Spielzeug aus einer Zeit, der das Mädchen eigentlich längst hätte entwachsen sein müssen — sie konnte einfach nicht erkennen, was Jessamine meinte.

»Wirklich sehr hübsch«, sagte sie schließlich.

»Siehst du, hier im Salon, das ist Mama«, fuhr Jessamine fort und berührte eine der winzigen Puppen vorsichtig mit dem Finger, woraufhin diese in ihrem Plüschsessel leicht wackelte. »Und hier im Arbeitszimmer sitzt Papa, mit einem Buch.« Ihr Finger streifte behutsam über eine andere Porzellanfigur. »Und ganz oben, im Kinderzimmer, liegt Klein Jessie in ihrem Bettchen.« Im Inneren der winzigen Wiege befand sich tatsächlich ein weiteres Püppchen, dessen Kopf kaum sichtbar unter dem Miniaturdeckchen hervorlugte. »Später werden alle gemeinsam zu Abend essen, hier im Speisezimmer. Und danach werden Mama und Papa im Salon am offenen Kamin sitzen. Manchmal gehen sie aber auch ins Theater oder in ein elegantes Restaurant oder auf einen Ball.« Jessamines Stimme klang nun gedämpft, als zitiere sie eine oft wiederholte Litanei. »Und dann wird Mama Papa einen Gutenachtkuss geben und sie werden auf ihre Zimmer gehen und die ganze Nacht schlafen ... bis zum Morgen. Sie werden nicht mitten in der Nacht vom Rat aus dem Schlaf gerissen, der von ihnen verlangt, hinaus in die Dunkelheit zu gehen und gegen Dämonen zu kämpfen. Sie werden kein Blut durchs ganze Haus verteilen. Und niemand wird beim Kampf gegen einen Werwolf einen Arm oder ein Auge verlieren oder Unmengen von Weihwasser in sich hineinschütten müssen, weil er von einem Vampir angegriffen wurde.«

Oh mein Gott, dachte Tessa bestürzt. Plötzlich verzog Jessamine das Gesicht, als könnte sie Tessas Gedanken lesen. »Nachdem unser Haus abgebrannt war, konnte ich nirgendwo anders hin. Es gab auch keine entfernten Familienangehörigen, die mich hätten aufnehmen können. Sämtliche Verwandten waren Schattenjäger, mit denen Mama und Papa seit dem Bruch mit dem Rat kein Wort mehr gewechselt hatten.« Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Henry hat diesen Sonnenschirm extra für mich angefertigt, hast du das gewusst? Anfangs fand ich den Schirm ganz entzückend, bis Henry mir erzählte, dass das Gewebe mit Elektrumdraht versehen und dadurch so scharf wie ein Messer ist. Der Schirm war nie etwas anderes als eine Waffe.«

»Du hast uns das Leben gerettet«, sagte Tessa.

»Vorhin im Park. Ich kann überhaupt nicht kämpfen. Wenn du nicht gewesen wärst ...«

»Ich hätte es nicht tun dürfen.« Jessamine starrte mit leerem Blick in das Puppenhaus. »Ich werde dieses Leben nicht führen, Tessa. Ich will so nicht leben. 

Es ist mir egal, was ich dafür tun muss. Aber so will ich nicht leben — eher sterbe ich.«

Diese Worte beunruhigten Tessa und sie wollte Jessamine gerade erklären, dass sie so etwas nicht sagen dürfe, als hinter ihnen die Tür geöffnet wurde und Sophie in ihrem adretten schwarzen Kleid und der weißen Haube ins Zimmer trat. Ihr Blick streifte über Jessamine und Tessa sah, dass ein misstrauischer Ausdruck in ihren Augen lag.

»Miss Tessa, Mr Branwell möchte Sie dringend in seinem Arbeitszimmer sprechen. Er sagt, es sei sehr wichtig«, wandte sie sich schließlich an Tessa. Als Tessa sich zu Jessamine umdrehte, um diese zu fragen, ob sie sie einen Moment allein lassen könne, hatte das Gesicht der Schattenjägerin wieder einen verschlossenen Ausdruck angenommen. Die Verwundbarkeit und der Zorn wirkten wie weggeblasen — die kalte Maske war zurückgekehrt.

»Na, geh schon, wenn Henry dich so dringend zu sprechen wünscht«, näselte sie. »Ich bin deiner Gesellschaft ohnehin müde. Außerdem fürchte ich, dass ich gleich Kopfschmerzen bekommen werde. Sophie, wenn du wieder zurück bist, musst du mir die Schläfen mit Eau de Cologne massieren.«

Sophies Blick traf sich quer durch den Raum mit Tessas und eine gewisse Belustigung sprach aus ihren Augen. »Wie Sie wünschen, Miss Jessamine.«

7

Das Klockwerk-Mädchen

Mit der Welt wie sie ist — so lautet mein Rat —, Dich abzufinden musst du sinnen; Nur mit den Karten, die einer hat, Vermag er das Spiel zu gewinnen.
»Strophen des Omar Chijam«

Draußen war es bereits dunkel geworden und Sophies Laterne warf seltsame Schatten an die Wände, während sie Tessa Treppe für Treppe nach unten führte. Viele der dunklen Stufen wirkten in der Mitte leicht abgeflacht, dort, wo Generationen von Schattenjägerfüßen den Stein abgetreten hatten. In regelmäßigen Abständen ließen winzige Fenster in den groben Steinmauern einen Blick auf den Abendhimmel zu, bis die Fensterlaibungen schließlich zugemauert waren — offensichtlich befanden sie sich nun unterhalb des Erdgeschosses.

»Sophie«, setzte Tessa nach einer Weile an, da ihre Nerven aufgrund der Dunkelheit und Stille ein wenig angespannt waren, »könnte es sein, dass wir auf dem Weg zur Krypta sind?«

Sophie kicherte und das Licht ihrer Laterne zuckte über die Mauern. »Stimmt, dieser Teil der Kirche war früher die Krypta. Bis Mr Branwell sie zu einem Laboratorium umbauen ließ. Ganze Tage verbringt er hier unten und tüftelt an seinen Spielzeugen herum und experimentiert. Damit treibt er Mrs Branwell irgendwann noch in den Wahnsinn.«

»Woran arbeitet er denn?«, fragte Tessa und wäre beinahe eine der unebenen Stufen hinuntergestolpert; sie konnte sich gerade noch an der Mauer festhalten, was Sophie anscheinend jedoch entgangen war.

»Ach, an allen möglichen Dingen«, erklärte Sophie, deren Stimme nun seltsam von den Wänden widerhallte. »Er erfindet neue Waffen und Ausrüstung für die Schattenjäger. Mr Branwell liebt Klockwerke und Mechanikteile und derlei Gerätschaften. Mrs Branwell pflegt manchmal zu sagen, dass er sie bestimmt noch mehr lieben würde, wenn sie wie eine Uhr ticken würde«, fügte sie lachend hinzu.

»Es klingt so, als wärst du den beiden sehr zugetan ... Mr und Mrs Branwell, meine ich«, bemerkte Tessa. Sophie schwieg, aber ihr ohnehin stolz aufgerichteter Rücken schien noch eine Spur gerade zu werden.

»Jedenfalls mehr zugetan als Will«, fuhr Tessa fort, in der Hoffnung, die Laune des anderen Mädchens durch eine humorvolle Bemerkung etwas aufzulockern.

»Oh, er.« Sophies Abneigung gegen Will sprach deutlich aus ihrer Stimme. »Er ist ... nun ja, er ist ein ganz anderer Fall. Er erinnert mich an den Sohn meines letzten Dienstherren. Der war genauso stolz und aufgeblasen wie Mr Herondale. Und er bekam alles, was er haben wollte, vom Tag seiner Geburt an. Und wenn er einmal etwas nicht sofort kriegen konnte, dann ...« Unwillkürlich hob Sophie die Hand und berührte die Seite ihres Gesichts, auf der die dicke Narbe vom Mundwinkel bis zur Schläfe verlief.

»Dann was?«

Doch Sophie hatte sich wieder gefangen. »Dann wurde er ausfallend«, erwiderte sie kurz angebunden, wechselte die Laterne in die andere Hand und spähte hinunter in die Dunkelheit. »Da unten müssen Sie vorsichtig sein, Miss. Die Stufen am Fuß der Treppe können furchtbar feucht und rutschig werden.«

Tessa drückte sich näher an die Steinmauer, die sich unter ihrer bloßen Hand kalt anfühlte. »Denkst du, es liegt vielleicht daran, dass Will ein Schattenjäger ist?«, nahm sie den Faden wieder auf. »Ich meine, sie halten sich doch irgendwie für überlegen, oder nicht? Jessamine glaubt das auch ...«

»Aber Mr Carstairs denkt nicht so. Er ist überhaupt nicht wie die anderen. Und dasselbe gilt für Mr und Mrs Branwell.«