Bevor Tessa darauf reagieren konnte, hatten sie bereits den Fuß der Treppe erreicht und blieben vor einer schweren Eichentür mit einem vergitterten Fenster stehen, hinter dem Tessa nur Schatten erkennen konnte. Sophie griff nach dem massiven Eisenriegel und drückte ihn kräftig hinunter.
Sofort schwang die Tür auf und gab den Blick auf einen riesigen, hell erleuchteten Raum frei. Mit großen Augen trat Tessa ein — dies war eindeutig die Krypta der Kirche, die hier ursprünglich gestanden hatte. Massive Pfeiler trugen eine Gewölbedecke, deren Rippen sich in der Dunkelheit verloren, und der Boden war mit großen, verwitterten Steinplatten gepflastert, auf denen sich gemeißelte Worte erkennen ließen. Tessa vermutete, dass sie auf den Grabplatten — und den Gebeinen — derjenigen stand, die in der Krypta begraben lagen. Der fensterlose Raum wurde von einem hellen Schein erleuchtet, den Tessa inzwischen nur zu gut kannte: Elbenlichtsteine sandten ihre Strahlen aus hohen Messinghalterungen an den massiven Pfeilern.
In der Raummitte stand eine Reihe wuchtiger Holztische, deren Oberflächen mit allen erdenklichen mechanischen Teilen übersät waren — Getriebe und Zahnräder aus matt schimmerndem Messing und Eisen und lange Stücke Kupferdraht. Daneben standen mehrere Glaskolben, gefüllt mit unterschiedlich gefärbten Flüssigkeiten, aus denen weißer Rauch oder unangenehme Dämpfe aufstiegen. Ein metallischer, scharfer Geruch hing in der Luft, wie kurz vor dem Ausbruch eines Gewitters. Auf einem der Holztische stapelten sich Waffen, deren Klingen im Schein des Elbenlichts gefährlich glitzerten, und ein halb fertiger Anzug aus einem augenscheinlich robusten Material, bestückt mit dünnen Metallplatten, hing über einem Drahtgestell. Daneben stand ein großer steinerner Tisch, dessen Oberfläche fast vollständig unter einem unordentlichen Haufen dicker Wolldecken verdeckt war.
Hinter diesem Tisch entdeckte Tessa Henry und Charlotte. Henry zeigte seiner Frau gerade irgendetwas, das er in der Hand hielt — ein Kupferrad oder ein Getriebeteil —, und redete dabei leise auf sie ein. Über seiner Kleidung trug er ein weites Leinenhemd, eine Art Fischerkittel, der vor Dreck und Schmierflecken starrte, die von irgendeiner dunklen Flüssigkeit stammen mussten. Doch am meisten verwunderte Tessa die ruhige Gelassenheit, die Henry ausstrahlte. Von seiner üblichen Zaghaftigkeit war nichts zu erkennen — er klang selbstsicher und überzeugt, und als er Tessa erblickte, wirkten seine haselnussbraunen Augen klar und offen.
»Miss Gray! Dann hat Sophie Ihnen also den Weg hier herunter gezeigt? Sehr aufmerksam von ihr.«
»Äh, ja, sie ...«, setzte Tessa an und schaute kurz über ihre Schulter, doch Sophie war verschwunden — sie musste an der Tür geräuschlos kehrtgemacht und den Rückweg angetreten haben. Tessa kam sich dumm vor, dass ihr das nicht aufgefallen war. »Ja, Sophie hat mich hergeführt«, beendete sie ihren Satz.
»Sie sagte, Sie wünschten mich zu sprechen?«
»In der Tat«, bestätigte Henry. »Wir könnten Ihre Hilfe gebrauchen. Würden Sie bitte für einen Moment hier herüberkommen?«, fügte er hinzu und bedeutete ihr, sich zu ihm und Charlotte zu gesellen.
Als Tessa auf den Tisch zutrat, sah sie, dass Charlottes Gesicht weiß und angespannt wirkte und ein Schatten über ihren braunen Augen lag. Sie blickte Tessa an, biss sich auf die Lippe und schaute dann auf den Tisch, wo sich der Haufen Wolldecken ... bewegte.
Tessa blinzelte. Hatte sie sich das vielleicht nur eingebildet? Nein, da war definitiv eine Bewegung gewesen, ein kaum merkliches Zucken. Und jetzt erkannte sie auch, dass es sich nicht um einen Haufen Decken handelte, sondern um ein großes, weich fallendes Tuch, das irgendetwas bedeckte — etwas von der Größe und Form eines menschlichen Körpers. Abrupt blieb sie stehen. Dann nahm Henry eine Ecke des Tuchs und zog es mit Schwung weg, sodass der Blick auf das freigegeben wurde, was unter der Decke lag. Tessa spürte, wie ihr plötzlich schwindelig wurde. Sie musste sich an der Kante eines der umstehenden Tische festhalten. »Miranda«, stieß sie erschrocken hervor.
Das tote Mädchen lag auf dem Steintisch, die Arme weit ausgebreitet und die mattbraunen Haare lose über die Schultern verteilt. Ihre Augen, die Tessa so beunruhigt hatten, waren verschwunden. Stattdessen starrten ihr leere schwarze Höhlen aus dem weißen Gesicht entgegen. Mirandas abgetragenes Kleid war in der Mitte aufgeschnitten, sodass darunter ihre Brust zum Vorschein kam. Tessa zuckte zusammen, wandte den Blick ab — und schaute dann ungläubig wieder hin: Trotz der Tatsache, dass man den Brustkorb in der Mitte aufgeschlitzt und die Haut wie die Schale einer Orange nach außen geklappt hatte, war nirgends menschliches Gewebe oder Blut zu sehen. Unter dem grotesken Einschnitt schimmerte glänzendes ... Metall?
Langsam trat Tessa näher, bis sie gegenüber von Henry auf der anderen Tischseite stand. Dort, wo man eigentlich Blut, zerfetztes Gewebe und schreckliche Verstümmelungen hätte sehen müssen, waren nur zwei weiße, zurückgeklappte Hautlappen zu erkennen und darunter ein Korpus aus Metall. Kunstvoll zusammengesetzte Kupferplatten bildeten den Brustkorb und gingen in eine gelenkartige, biegsame Taille aus Kupfer und Messing über. Nur in der Mitte von Mirandas Brustkorb fehlte eine quadratische, etwa handgroße Kupferplatte und gab den Blick auf eine tiefe Aushöhlung frei.
»Tessa.« Charlottes Stimme klang leise, aber eindringlich. »Will und Jem haben dies hier gefunden ... diesen Korpus. Und zwar in dem Haus, in dem man Sie gefangen gehalten hat. Das Haus war vollkommen leer, bis auf diese Gestalt. Man hatte sie in einem Raum zurückgelassen, allein.«
Tessa, die noch immer mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen auf den Tisch starrte, nickte.
»Das ist Miranda. Das Dienstmädchen der Dunklen Schwestern.«
»Wissen Sie irgendetwas über sie? Wer sie sein könnte? Irgendetwas über ihre Vergangenheit?«
»Nein. Nein, ich dachte ... Ich meine, sie hat ohnehin kaum mit mir gesprochen ... und wenn, dann hat sie Dinge wiederholt, die die Schwestern kurz zuvor gesagt hatten.«
Henry schob einen Finger zwischen Mirandas Lippen und zog ihren Unterkiefer nach unten. »Sie besitzt zwar eine primitive Metallzunge, aber ihr Mund war weder zum Sprechen ausgelegt noch zum Verzehr von Nahrung. Sie hat keine Speiseröhre und vermutlich auch keinen Magen: Ihre Mundhöhle endet hinter den Zähnen in einer Metallplatte.« Er drehte den Kopf des Mädchens hin und her und inspizierte den Kiefer mit zusammengekniffenen Augen.
»Aber was genau ist sie denn nun? Eine Art Schattenwesen oder ein Dämon?«, fragte Tessa.
»Nein.« Henry gab Mirandas Kinn frei. »Genau genommen ist sie überhaupt kein Lebewesen, sondern ein Automat. Eine aus mechanischen Teilen zusammengesetzte Apparatur, die wie ein Mensch aussieht und sich auch so bewegt. Schon Leonardo da Vinci fertigte einen Entwurf für solch einen Maschinenmenschen an — eine mechanische Kreatur, die sitzen, die Arme bewegen und den Kopf drehen konnte. Da Vinci war der Erste, der die Ansicht vertrat, der menschliche Körper sei eigentlich nur eine komplexe Maschine und unser Inneres ähnele im Grunde Zahnrädern und Kolben und Nocken aus Muskulatur und anderem Gewebe. Also warum sollten diese nicht durch Kupfer und Eisen ersetzt werden können? Warum sollte man einen Menschen nicht konstruieren können? Aber das hier ... So etwas hätten sich Jaquet-Droz und Maillardet in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Ein wahrhaft biomechanischer Automat, der sich von selbst bewegt und steuert, eingehüllt in menschliches Gewebe.« Henrys Augen funkelten. »Ein wahres Wunderwerk.«
»Henry, dieses Gewebe, das du so bewunderst ...«
Charlottes Stimme klang angespannt. »Dieses Gewebe stammt irgendwoher.«
Henry fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und das Feuer in seinen Augen erlosch. »Ja ... von den Leichnamen im Keller des Dunklen Hauses. Die Brüder der Stille haben sie untersucht. Den meisten dieser Leichen fehlen Organe — Herz, Leber und so weiter. Bei einigen sind auch Knochen und Knorpel und sogar die Haare verschwunden. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass die Dunklen Schwestern die Leichname ausgeschlachtet haben, um mit den Körperteilen ihre mechanischen Kreaturen zu konstruieren. Kreaturen wie Miranda.«