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»Und wie der Kutscher«, ergänzte Tessa. »Ich glaube, der war ebenfalls so ein Automat. Aber warum sollte jemand so etwas tun?«

»Das ist noch nicht alles«, warf Charlotte ein. »Die mechanischen Teile, die wir im Keller der Dunklen Schwestern gefunden haben, wurden von der Firma Mortmain & Company gefertigt. Die Firma, für die Ihr Bruder gearbeitet hat.«

»Mortmain!« Tessa riss sich vom Anblick des reglosen Mädchens auf dem Tisch los. »Sie haben ihn doch aufgesucht, richtig? Was hat er Ihnen über Nate erzählen können?«

Einen Sekundenbruchteil lang zögerte Charlotte und warf Henry einen Blick zu. Tessa kannte diesen Blick — es war die Sorte von Blick, die Menschen einander zuwarfen, wenn sie sich anschickten, gemeinsam die Unwahrheit zu sagen. Die Sorte von Blick, die sie selbst mit ihrem Bruder gewechselt hatte, wenn sie irgendetwas vor ihrer Tante Harriet hatten verbergen wollen.

»Sie verheimlichen mir etwas«, stellte Tessa nun kühl fest. »Wo ist mein Bruder? Was weiß Mortmain über seinen Verbleib?«

Charlotte seufzte. »Mortmain ist tief in okkulte Machenschaften verstrickt und Mitglied im Pandemonium Club, der offenbar von Schattenweltlern geführt wird.«

»Aber was hat das mit meinem Bruder zu tun?«

»Ihr Bruder hat von diesem Club erfahren und war davon völlig fasziniert — und zwar so sehr, dass er seine Stelle bei Mortmain gekündigt und einen Posten bei einem Vampir namens de Quincey angenommen hat. De Quincey ist ein sehr einflussreicher Schattenweltler und de facto das Oberhaupt des Pandemonium Clubs.« Charlotte klang bitter und angewidert. »Und anscheinend ist mit dieser Position ein Titel verbunden.«

Plötzlich verspürte Tessa erneut einen heftigen Schwindelanfall. Sie griff wieder nach der Tischkante.

»Der Magister?«

Charlotte schaute zu Henry, der mit beiden Händen im geöffneten Brustkorb der Kreatur steckte und langsam etwas hervorholte — ein menschliches Herz, rot und fleischig, aber hart und glänzend, als wäre es lackiert. Kupfer- und Silberdrähte wanden sich um die Oberfläche des Organs, das alle paar Sekunden einen matten Schlag tat. Seltsamerweise arbeitete es noch immer.

»Würden Sie es gern einmal halten?«, wandte Henry sich an Tessa. »Sie müssten allerdings sehr vorsichtig sein. Diese Kupferröhren, die sich durch den ganzen Körper der Kreatur winden, führen Öl und andere leicht entzündliche Flüssigkeiten. Ich muss sie erst noch genauer identifizieren.«

Tessa schüttelte den Kopf.

»Nun gut.« Henry wirkte enttäuscht. »Aber da ist noch etwas anderes, was ich Ihnen zeigen möchte. Wenn Sie einmal schauen wollen ...« Vorsichtig drehte er das Herz in seinen schlanken Fingern, bis auf der anderen Seite des Organs eine kleine Metallplatte sichtbar wurde. Eine Plakette mit einer Gravur: ein großes Q und darin ein kleines d. 

»De Quinceys Zeichen«, konstatierte Charlotte, die inzwischen sehr blass um die Nase geworden war.

»Ich habe es schon ein paar Mal gesehen, auf seinem Briefkopf. De Quincey war immer ein Verbündeter des Rats ... das habe ich zumindest bisher angenommen. Er war dabei, als das Abkommen unterzeichnet wurde. Dieser Vampir ist sehr mächtig und kontrolliert sämtliche Nachtkinder im westlichen Teil Londons. Mortmain meinte, dass de Quincey Maschinenteile von ihm erworben habe, und diese Plakette scheint seine Aussage zu bestätigen. Es hat den Anschein, als wären Sie nicht die Einzige gewesen, die im Haus der Dunklen Schwestern für die Zwecke des Magisters vorbereitet wurde. Diese KlockwerkKreaturen hat man dort ebenfalls zusammengesetzt.«

»Wenn dieser Vampir der Magister ist«, sagte Tessa gedehnt, »dann ist er derjenige, der den Dunklen Schwestern den Auftrag erteilt hat, mich zu entführen. Und er ist auch derjenige, der Nate gezwungen hat, diesen Brief an mich zu verfassen. Also muss er wissen, wo sich mein Bruder befindet.«

Ein mattes Lächeln huschte über Charlottes Gesicht. »Sie sind wirklich zielbewusst, nicht wahr?«

»Glauben Sie ja nicht, dass ich nicht wissen will, was der Magister mit mir beabsichtigte«, entgegnete Tessa mit harter Stimme. »Warum er mich hat entführen und ausbilden lassen. Oder woher er von meiner ... meiner Fähigkeit überhaupt wusste. Und verlassen Sie sich darauf: Wenn ich könnte, würde ich Rache nehmen wollen. Aber mein Bruder hat Vorrang: Er ist alles, was ich noch habe. Ich muss ihn finden.«

»Wir werden ihn finden, Tessa«, versicherte Charlotte ernst. »Irgendwie passt all dies — die Dunklen Schwestern, Ihr Bruder, Ihre eigene Fähigkeit und de Quinceys Beteiligung an der ganzen Geschichte — wie ein großes Puzzle zusammen. Im Moment fehlen uns einfach nur ein paar entscheidende Teile.«

»Ich kann nur hoffen, dass wir sie bald finden«, sagte Henry düster und warf einen traurigen Blick auf den Körper auf dem Tisch. »Was könnte ein Vampir mit einem Haufen halb mechanischer Wesen wollen? Für mich ergibt das alles keinerlei Sinn.«

»Noch nicht«, sagte Charlotte und hob entschlossen das kleine Kinn. »Aber es wird nicht mehr lange dauern.«

Henry blieb in seinem Laboratorium zurück, obwohl Charlotte verkündet hatte, es wäre höchste Zeit, sich zum Abendessen in den Speisesaal zu begeben. Doch Henry erwiderte, er bräuchte nur noch fünf Minuten, und winkte sie geistesabwesend aus dem Raum. Resigniert schüttelte Charlotte den Kopf und hielt Tessa die Tür auf.

»Henrys Laboratorium — etwas Vergleichbares habe ich noch nie gesehen«, schnaufte Tessa, als sie etwa die Hälfte der Treppen zurückgelegt hatten. Sie war schon ziemlich außer Atem, wohingegen Charlotte die Stufen ruhig und beständig erklomm und so aussah, als würde sie niemals müde werden.

»Ja«, bestätigte Charlotte leicht niedergeschlagen.

»Wenn ich es ihm gestatten würde, wäre Henry am liebsten Tag und Nacht dort.«

Wenn ich es ihm gestatten würde. Diese Worte überraschten Tessa: War nicht der Ehemann derjenige, der beschloss, was erlaubt war und was nicht und wie sein Haus geführt werden sollte? Die Pflicht der Ehefrau bestand schlichtweg darin, dafür zu sorgen, dass die Wünsche des Mannes umgesetzt wurden. Sie hatte ihm einen ruhigen, friedvollen Rückzugsort vor dem Chaos der Welt zu schaffen, ein Refugium, in dem er sich entspannen konnte. Aber das Institut war alles andere als solch ein Ort, eher eine Mischung aus Internat, Heim und Kommandozentrale. Und wer auch immer hier das Kommando führte, eines stand fest:

Henry war es jedenfalls nicht.

Plötzlich blieb Charlotte ruckartig stehen und rief überrascht aus: »Jessamine! Was um Himmels willen ist passiert?«

Tessa schaute auf. Am oberen Ende der Treppe stand Jessamine, eingerahmt von der offenen Tür. Sie trug noch immer ihr Tageskleid; allerdings waren ihre Haare zu kunstvollen Locken gedreht worden, zweifellos das Werk der nimmermüden Sophie. Ihr hübsches Gesicht war zu einem finsteren Ausdruck verzogen.

»Es geht um Will«, verkündete sie düster. »Er legt im Speiseraum ein absolut lächerliches Verhalten an den Tag.«

Charlotte wirkte verwirrt. »Und wie unterscheidet sich das von dem absolut lächerlichen Verhalten, das er in der Bibliothek oder in der Waffenkammer oder einem der anderen Räume an den Tag legt?«

»Der Unterschied besteht darin, dass wir im Speisezimmer essen müssen«, erwiderte Jessamine in einem Ton, als läge diese Tatsache doch nun wirklich auf der Hand. Dann wirbelte sie herum und stolzierte durch den Korridor davon — wobei sie in regelmäßigen Abständen einen Blick über die Schulter warf, um sicherzugehen, dass Tessa und Charlotte ihr auch ja folgten. Tessa musste lächeln. »Es ist fast so, als wären die beiden Ihre Kinder, stimmt’s?«, wandte sie sich leise an Charlotte.