Charlotte seufzte. »Ja«, bestätigte sie. »Allerdings bis auf den Teil, der von ihnen verlangen würde, mich zu lieben, vermute ich einmal.« Darauf fiel Tessa beim besten Willen keine Antwort ein.
Da Charlotte darauf bestand, dass sie noch schnell etwas im Salon zu erledigen habe, machte Tessa sich allein auf den Weg zum Speisezimmer. Als sie dort eintraf, ziemlich stolz auf sich selbst, weil sie sich diesmal nicht verirrt hatte, erblickte sie als Erstes Will, der über eines der Sideboards turnte und an der Decke herumfummelte. Jem saß am Tisch und betrachtete Will mit einem skeptischen Ausdruck. »Es würde dir ganz recht geschehen, wenn du ihn zerbrichst«, bemerkte er und neigte leicht den Kopf, als er Tessa sah.
»Guten Abend, Miss Gray«, rief er, folgte dann ihrem erstaunten Blick und grinste. »Der Gaslüster hing schief und Will ist entschlossen, ihn wieder gerade auszurichten.«
Tessa vermochte nicht zu erkennen, was an dem wuchtigen Beleuchtungskörper nicht in Ordnung sein sollte, doch ehe sie etwas sagen konnte, rauschte Jessamine in den Raum und warf Will einen vernichtenden Blick zu. »Also wirklich! Kannst du denn nicht Thomas damit beauftragen? Ein Gentleman sollte nicht ...«
»Ist das da Blut an deinem Ärmel, Jessie?«, unterbrach Will sie, als er zu ihr hinunterschaute. Jessamines Miene wurde eisig. Ohne ein weiteres Wort machte sie auf dem Absatz kehrt und stolzierte zum anderen Ende des Tischs. Dort ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und starrte stur geradeaus.
»Ist irgendetwas vorgefallen, als Sie und Jessamine in der Stadt waren?«, fragte Jem aufrichtig besorgt und wandte Tessa den Kopf zu. Dabei fiel Tessa auf, dass an seinem Kehlkopf kurz etwas Grünes aufblitzte.
Jessamine warf Tessa einen beschwörenden Blick zu; Panik stand in ihren Augen.
»Nein«, setzte Tessa an. »Es war nichts ...«
»Ich hab es geschafft!«, platzte Henry in dem Moment in den Raum und wedelte triumphierend mit einem Objekt herum, das er in der Hand hielt. Der Gegenstand sah aus wie ein kurzes Kupferrohr mit einem schwarzen Knopf an der Seite. »Jede Wette, dass ihr mir das nicht zugetraut hättet!«
Will unterbrach seine Bemühungen mit dem Gaslüster und starrte auf Henry herab. »Keiner von uns hat auch nur die leiseste Ahnung, wovon du redest, Henry. Aber das weißt du ja sicher, oder?«
»Es ist mir endlich gelungen, meinen Phosphorisator in Betrieb zu setzen!« Stolz schwenkte Henry den Gegenstand hin und her. »Er funktioniert nach dem Prinzip des Elbensteins, sendet aber ein fünf Mal stärkeres Licht aus. Man muss einfach nur auf den Knopfdrücken und erzeugt damit sofort einen unvorstellbar starken Lichtblitz.«
Einen Moment lang herrschte Stille im Raum.
»Dann ist das also ein sehr, sehr heller Elbenlichtstein«, konstatierte Will schließlich.
»Genau!«, bestätigte Henry.
»Und inwiefern ist das nützlich?«, hakte Jem nach.
»Schließlich dient Elbenlicht zur Beleuchtung. Es ist ja nicht so, als ob davon eine Gefahr ausginge ...«
»Wartet, bis ihr es gesehen habt!«, erwiderte Henry und hielt das Objekt in die Höhe. »Seht genau her.«
Will wollte noch protestieren, doch es war schon zu spät: Henry hatte bereits auf den Knopf gedrückt. Im nächsten Moment zuckte ein greller Lichtblitz durch den Raum, gefolgt von einem lauten Zischen — und einen Sekundenbruchteil später versank alles in tiefster Finsternis. Tessa quietschte überrascht auf und Jem lachte leise.
»Bin ich blind?«, schwebte Wills leicht gereizte Stimme durch die Dunkelheit. »Ich werde alles andere als erfreut sein, falls du mich geblendet haben solltest, Henry.«
»Nein, nein.« Henry klang besorgt. »Nein, der Phosphorisator hat offenbar ... nun, allem Anschein nach hat er sämtliche Lichter ausgeschaltet.«
»Und sollte er das nicht?«, fragte Jem sanft wie immer.
»Äh ... nein«, murmelte Henry.
Will murrte irgendetwas vor sich hin, und obwohl Tessa ihn nicht genau verstehen konnte, glaubte sie, die Worte »Henry« und »Schafskopf« aufzuschnappen. Einen Augenblick später ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen.
»Will!«, stieß jemand beunruhigt aus. Strahlend helles Licht durchflutete den Raum und ließ Tessa blinzeln. Charlotte stand in der Tür, einen Elbenstein in der hoch erhobenen Hand ... und vor ihren Füßen lag Will, umgeben von zerbrochenem Porzellan, das sich kurz zuvor noch auf dem Sideboard gestapelt hatte. »Was um Himmels willen ...«
»Ich wollte den Gaslüster reparieren«, erwiderte Will verärgert, setzte sich auf und schnippte ein paar Scherbenreste von seinem Hemd.
»Das hätte Thomas doch erledigen können. Und jetzt sieh dir an, was du gemacht hast! Die Hälfte der Teller ist zerschlagen.«
»Meinen verbindlichsten Dank an deinen schwachköpfigen Gatten.« Will schaute an sich herab. »Ich glaube, ich habe mir etwas gebrochen. Der Schmerz ist ziemlich überwältigend.«
»Auf mich wirkst du ziemlich unverletzt«, konterte Charlotte ungerührt. »Jetzt steh endlich auf. Das bedeutet dann wohl, dass wir heute Abend bei Elbenlicht speisen werden.«
Jessamine, die am anderen Ende des Tischs saß, schnaubte — das erste Geräusch, das sie von sich gab, seit Will sie nach dem Blut auf ihrem Ärmel gefragt hatte. »Ich hasse Elbenlicht. Es macht immer so einen grünlichen Teint.«
Trotz Jessamines grünlicher Blässe kam Tessa zu dem Schluss, dass ihr das Licht der Elbensteine recht gut gefieclass="underline" Sie erzeugten einen diffusen weißlichen Schimmer, der selbst die Erbsen und Zwiebeln auf ihrem Teller romantisch und geheimnisvoll wirken ließ. Während Tessa mit einem schweren Silbermesser etwas Butter auf ihr Brötchen strich, musste sie unwillkürlich an die kleine Wohnung in Manhattan denken — dort hatten ihre Tante, ihr Bruder und sie ihr kärgliches Abendbrot im Schein weniger Kerzenstummel an einem schlichten Holztisch eingenommen. Tante Harriet war stets auf peinliche Sauberkeit bedacht gewesen, von den weißen Spitzengardinen an den Wohnzimmerfenstern bis hin zum glänzend polierten Kupferkessel auf dem Herd. Je weniger man besaß, desto sorgsamer musste man mit dem umgehen, das man besaß, pflegte sie immer zu sagen. Und Tessa fragte sich langsam, ob die Schattenjäger wohl ebenso sorgsam mit den vielen Dingen umgingen, die sie besaßen.
Als Charlotte und Henry erzählten, was sie von Mortmain erfahren hatten, hörten Jem und Will aufmerksam zu, während Jessamine gelangweilt aus dem Fenster schaute. Jem schien sich besonders für die Ausstattung von Mortmains Haus zu interessieren, mit den Kunstobjekten aus aller Welt.
»Hab ich’s euch nicht gesagt?«, bemerkte er triumphierend. »Ein Taipan. Diese Geschäftsleute halten sich für äußerst wichtige Männer. Männer, die über dem Gesetz stehen.«
»Ja«, pflichtete Charlotte ihm bei. »Mortmain strahlte so etwas aus — als sei er es gewohnt, dass man ihm zuhört. Männer wie er sind oft leichte Beute für diejenigen, die sie in die Verborgene Welt hineinziehen wollen. Diese Männer sind daran gewöhnt, Macht zu besitzen, und erwarten, mühelos und ohne großes Risiko für sie selbst noch mehr Macht zu erwerben. Aber sie haben nicht die geringste Ahnung, wie hoch der Preis ist, den man für Macht in der Schattenwelt bezahlt.« Stirnrunzelnd drehte sie sich zu Will und Jessamine um, die sich in aufgebrachtem Ton über irgendetwas zu streiten schienen: »Was ist mit euch beiden los?«
Tessa ergriff die Gelegenheit, sich Jem zuzuwenden, der rechts von ihr saß. »Shanghai ... das klingt sehr faszinierend«, sagte sie leise. »Ich wünschte, ich könnte diese Stadt einmal besuchen. Ich wollte schon immer gern ferne Länder bereisen.«
Als Jem sie anlächelte, sah sie das grüne Objekt an seinem Hals erneut aufblitzen — es handelte sich um einen Anhänger aus einem mattgrünen Stein. »Und nun haben Sie eine weite Reise in ein fernes Land unternommen. Schließlich sind Sie jetzt hier in London, oder nicht?«