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»Bisher habe ich immer nur in meinen Büchern die Welt bereist. Ich weiß, das klingt albern, aber ...«

In dem Moment schlug Jessamine mit ihrer Gabel auf den Tisch. »Charlotte«, unterbrach sie in schrillem Ton, »sorge gefälligst dafür, dass Will mich in Ruhe lässt.«

Will lehnte sich lässig gegen die Stuhllehne, aber seine blauen Augen funkelten. »Wenn sie mir verraten würde, woher das Blut auf ihrer Kleidung stammt, würde ich sie ja nicht länger belästigen. Also lass mich raten, Jessie: Du bist im Park einer bedauernswerten Dame begegnet, die unglücklicherweise ein Kleid trug, dessen Farbe sich mit dem Ton deiner Robe nicht vertrug. Und deshalb hast du ihr mit deinem ingeniösen kleinen Sonnenschirm die Kehle aufgeschlitzt, nicht wahr?«

Jessamine funkelte ihn an. »Du bist einfach lächerlich«, stieß sie wütend hervor.

»Das muss ich in diesem Fall leider bestätigen«, wandte Charlotte sich an Will.

»Ich meine, ich trage ein blaues Kleid«, fuhr Jessamine fort. »Und Blau verträgt sich mit allem — was du eigentlich wissen solltest. Schließlich bist du bei deiner eigenen Kleidung die Eitelkeit in Person.«

»Blau verträgt sich keineswegs mit allem«, beschied Will ihr. »Zu Rot passt es beispielsweise überhaupt nicht.«

»Ich besitze eine rot-blau gestreifte Weste«, warf Henry ein und griff nach der Schüssel mit Erbsen.

»Also, wenn das nicht ausreicht als Beweis dafür, dass man diese beiden Farben niemals miteinander kombinieren sollte, dann weiß ich es wirklich nicht.«

»Will, sprich nicht in diesem Ton mit Henry«, wies Charlotte ihn scharf zurecht. »Und Henry ...«

Ihr Mann hob den Kopf. »Ja?«

Charlotte seufzte. »Das ist Jessamines Teller, auf den du gerade die Erbsen schaufelst ... nicht deiner. Pass doch bitte auf, mein Lieber.«

Als Henry überrascht auf seinen Teller schaute, öffnete sich hinter ihm die Tür und Sophie betrat das Speisezimmer. Mit gesenktem Blick ging sie zu Charlotte, beugte sich zu ihr hinab und raunte ihr leise etwas zu. Ihre dunklen Haare glänzten im Schein des Elbenlichts und die Narbe in ihrem Gesicht schimmerte silbern.

Ein Ausdruck der Erleichterung huschte über Charlottes Gesicht. Im nächsten Moment erhob sie sich und eilte aus dem Zimmer, wobei sie nur Henry im Vorbeigehen kurz aufmunternd an der Schulter berührte.

Jessamine riss die braunen Augen auf. »Wo geht sie hin?«

Will schaute zu Sophie; sein Blick wanderte auf eine Art und Weise über ihr Gesicht, von der Tessa instinktiv wusste, dass es sich wie das Streicheln von Fingerspitzen auf nackter Haut anfühlen musste. »In der Tat. Sophie, meine Liebe, wohin ist Charlotte gegangen?«

Sophie schoss ihm einen giftigen Blick zu. »Wenn Mrs Branwell gewollt hätte, dass Sie davon erführen, dann hätte sie es Ihnen sicherlich mitgeteilt«, schnappte sie, machte auf dem Absatz kehrt und folgte ihrer Dienstherrin aus dem Raum.

Henry, der inzwischen die Erbsenschüssel abgestellt hatte, versuchte, eine freundliche Miene aufzusetzen. »Nun, denn ... wo waren wir stehen geblieben?«, fragte er heiter.

»Nirgendwo«, erwiderte Will. »Wir wollen wissen, wohin Charlotte sich begeben hat. Ist irgendetwas vorgefallen?«

»Nein«, sagte Henry. »Ich meine, zumindest glaube ich es nicht ...« Als er in die Runde schaute, sah er, dass vier Augenpaare ihn fixierten. »Charlotte erzählt mir nicht immer, was sie tut. Das wisst ihr doch«, seufzte er und brachte ein leicht schmerzliches Lächeln zustande. »Kann es ihr kaum verübeln. Auf mich ist in puncto vernunftorientiertes Handeln nicht viel Verlass.«

Tessa wünschte, sie könnte Henry etwas Tröstliches sagen. Irgendetwas an seiner Art erinnerte sie an Nate, als er jünger gewesen war — jünger, unbeholfen, verlegen und leicht gekränkt. Instinktiv griff sie nach dem Engel an ihrer Kehle und suchte Trost in seinem beständigen Ticken.

In dem Moment sah Henry zu ihr hinüber. »Diese Klockwerk-Figur, die Sie da an Ihrer Kette tragen ... dürfte ich einmal einen Blick darauf werfen?«

Tessa zögerte erst und nickte dann — schließlich war es Henry, der sie darum bat. Sie öffnete den Verschluss, nahm die Kette ab und reichte sie ihm.

»Das ist ein wirklich sehr interessantes Objekt«, murmelte Henry und drehte den Klockwerk-Engel in seinen Händen. »Woher haben Sie es?«

»Der Engel gehörte meiner Mutter.«

»Sieht aus wie eine Art Talisman.« Henry schaute auf. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich ihn mir in meinem Labor einmal genauer ansehe?«

»Äh ...« Tessa konnte ihre Sorge nicht verhehlen.

»Wenn Sie sehr, sehr vorsichtig damit umgehen. Der Engel ist das Einzige, was ich noch von meiner Mutter habe. Und wenn er beschädigt würde ...«

»Henry wird ihn nicht zerbrechen oder verbiegen«, versicherte Jem ihr. »In diesen Dingen ist er wirklich sehr umsichtig.«

»Das stimmt«, bestätigte Henry, so bescheiden und sachlich, dass an dieser Aussage nichts Selbstgefälliges zu erkennen war. »Ich werde Ihnen den Engel in erstklassigem Zustand zurückgeben.«

»Also, ich . .« Tessa zögerte noch immer.

»Ich weiß wirklich nicht, was der ganze Aufstand soll«, mischte Jessamine sich nun ein, die während des gesamten Gesprächs mit gelangweilter Miene dagesessen hatte. »Es ist ja nicht so, als ob dieses Ding Diamanten enthalten würde.«

»Manchen Menschen sind Erinnerungsstücke wichtiger als Diamanten, Jessamine«, sagte eine Stimme. Charlotte stand in der Tür und zog ein beunruhigtes Gesicht. »Da ist jemand, der Sie gern sprechen möchte, Tessa.«

»Mich?«, fragte Tessa und vergaß den KlockwerkEngel einen Moment.

»Und, wer ist es?«, hakte Will nach. »Musst du uns denn immer auf die Folter spannen?«

Charlotte seufzte. »Es ist Lady Belcourt. Sie wartet unten. Im Sanktuarium.«

»Jetzt? Um diese Uhrzeit?«, fragte Will stirnrunzelnd. »Ist irgendetwas vorgefallen?«

»Ich habe ihr eine Nachricht zukommen lassen«, erklärte Charlotte. »Wegen de Quincey. Kurz vor dem Abendessen. Ich hatte gehofft, dass sie möglicherweise irgendwelche Informationen für uns haben könnte, und das hat sie tatsächlich. Aber sie besteht darauf, zuerst mit Tessa zu sprechen. Trotz unserer Vorkehrungen scheinen Gerüchte über Tessa in die Schattenwelt gesickert zu sein und Lady Belcourt ist ... interessiert.«

Mit einem lauten Klirren legte Tessa ihre Gabel auf ihren Teller. »Woran interessiert?« Als sie in die Runde am Tisch schaute, erkannte sie, dass nun vier Augenpaare auf sie geheftet waren. »Wer ist Lady Belcourt?«, fragte sie. Als sie keine Antwort erhielt, wandte sie sich an Jem: »Ist sie eine Schattenjägerin?«

»Sie ist eine Vampirin«, erläuterte Jem. »Eine Vampir-Informantin, um genau zu sein. Sie versorgt Charlotte mit Informationen und hält uns auf dem Laufenden darüber, was in der Gemeinschaft der Nachtkinder gerade vorgeht.«

»Sie brauchen nicht mit ihr zu sprechen, wenn Sie es nicht möchten, Tessa«, fügte Charlotte hinzu. »Ich kann sie auch wieder fortschicken.«

»Nein.« Tessa schob ihren Teller zurück. »Wenn sie so gut über de Quincey informiert ist, dann weiß sie vielleicht auch etwas über Nate. Das Risiko, sie möglicherweise mit wichtigen Informationen fortzuschicken, kann ich einfach nicht eingehen. Ich werde mit ihr reden.«

»Möchtest du denn nicht wissen, was sie überhaupt von dir will?«, fragte Will verwundert.

Tessa warf ihm einen bedächtigen Blick zu. Das Elbenlicht ließ seine Haut heller schimmern und seine blauen Augen noch intensiver leuchten. Sie besaßen die Farbe des Nordatlantiks, dort, wo das Eis in Schollen auf den blaugrauen Fluten trieb wie Schneeflocken auf einer dunklen Fensterscheibe. »Abgesehen von den Dunklen Schwestern habe ich noch keinen anderen Schattenweltler kennengelernt«, sagte sie schließlich. »Und ich denke, das würde ich gern nachholen.«

»Tessa ...«, setzte Jem an, doch sie hatte sich bereits erhoben und eilte Charlotte nach, ohne sich noch einmal umzudrehen.